Inzwischen sind die künftigen Ritter von den Bäumen herabgeklettert. Ein fröhliches Halloh erhebt sich bei der Entdeckung, daß sowohl Germaines als Valeries Knappe gerade auf der Föhre und der Tanne gesessen haben, welche die beiden Mädchen so ausgiebig umarmten. Aber schon ruft Ellenor dazwischen: »Ich will, daß ihr ruhig seid! Wenn ihr mich zu eurer Königin erhoben habt, so kommt euch vor allem Gehorsam zu. Versprecht mir, in Zukunft keine solchen Streiche mehr zu machen, sonst kehre ich auf der Stelle um! – Von dir, Raoul, hätte ich so etwas am allerwenigsten erwartet . . .«
Beschämt stehen die Jünglinge da und geloben im Stillen, daß Ellenor wirklich ihre Königin sein soll. Dann führen sie ihre Herrinnen zu den unweit in einer versteckten Mulde angebundenen Pferden und heben sie mit dem schweigenden Ernste ergebener Dienstbarkeit in den Sattel. Während sie die Mädchen kurz in ihren Armen halten und diese sich von ihren Armen umfangen fühlen, ahnen sie alle mit blitzartiger Hellsichtigkeit, wessen sie sich eigentlich erdreisten; aber trotzdem bleiben sie dem einmal gefaßten Entschlusse treu und wagt sich kein Wort des Zweifels über ihre Lippen.
»Du, Raoul, bist fortan nicht mehr mein Knappe, Florian nicht mehr der Marcelines, Severin nicht mehr der Suzannes, Gaston nicht mehr der Germaines, Bernard nicht mehr der Valeries,« entscheidet Ellenor hoch vom Sattel herab; »sondern ihr seid jetzt alle zusammen, ohne Unterschied, meine Ritter!« – »Dann werden wir wohl deine Zofen sein müssen, erlauchteste Königin!« flötet Marceline; aber niemand gibt ihr eine Antwort darauf. Bedarf das Selbstverständliche noch langer Bestätigungen?
Ellenor mit Raoul an der Spitze, so reiten sie, gleich einem Märchen voll leuchtender Schönheit, in den steigenden Nebel, in die durchbrechende Sonne hinein. Wie Ellenor bei einer Biegung des Weges zum letztenmal durch den weißen Blust einen Blick nach der Burg zurückwirft, wo ihre gastfreundlichen Eltern die Aufregungen des Vortages ausschlafen, kann sie sich eines leisen Angstgefühles nicht erwehren; und auch die andern Mädchen werden, nun sich ihr keckes Unternehmen in nicht mehr zu leugnende Tat umsetzt, von einer wachsenden Furcht befallen, zu deren Überwindung sie all ihren Mut aufbieten müssen. Sollte sie daher rühren, daß sie sich eingestehen, über der Sehnsucht nach dem Heiligen Land das heilige Land ihrer Jungfräulichkeit etwas zu wenig bewacht und sogar die Geheimnisse einer seiner wichtigsten Provinzen verraten zu haben?
Durch die Köpfe der Knappen aber geistert die Erinnerung an einen Kreuzzug, den einst die Ritter ins Werk setzten und von welchem jetzt noch die Rede geht. Das war, als König Ludwig, der Siebente seines Namens, nach Jerusalem auszog, wobei sich seine wunderschöne Frau, die Königin Ellenor, so unfromm benahm, daß er sich nach seiner Rückkehr von ihr scheiden ließ. Sie aber heiratete alsbald den jungen König von England und nahm die Sehnsuchtsträume aller französischen Jünglinge mit sich übers Meer . . .
Bernard, welcher zuhinterst durch das blühende Gefilde reitet, spitzt die Lippen und pfeift, um Valerie zu ärgern, wie von ungefähr die Melodie vor sich hin, zu der sie alle die Worte kennen:
»Und wären Erd' und Himmel mein,
Vom Meer bis an den grünen Rhein,
Ich wollte gern verarmen,
Läg' Englands holde Herrscherin,
Läg' Ellenor die Königin
Heut Nacht in meinen Armen!«
26. Isas Einkehr
»Willst du nicht noch?«
Isa schüttelt ihren roten Schopf, zeigt lachend ihre weißen Zähne und schiebt den leeren Milchnapf von sich.
»Danke, Mütterchen. – Sonst wird mir das Gehen zu schwer . . .«
Und sie überblickt unter den hellgrün belaubten, weit vorgestreckten Ästen der Linde die blauduftige Ferne, in die sie heute noch hineinwandern muß.
»Es hätte dir nichts geschadet, Kind!« spricht ihr die Bäuerin zu. »Die Sonne und die frische Luft haben dich schon tüchtig abgezehrt. Und wer weiß, wann man dir's wieder so gern gibt . . .«
Aber Isa ist von der Holzbank aufgestanden und greift nach ihrem Bündel. Ja, wer weiß, wo sie wieder einmal so gern gelitten ist!
Drin in der Stube sitzt der gichtbrüchige alte Bauer am offenen Fenster und sagt nichts. Die Linde greift mit ihrem Gezweige nach rückwärts über die dürftige Hütte hinweg, ein Dach über dem Dach. Hier ist gut wohnen!
Gibt es wohl in der weiten Welt irgendwo ein Haus, über dessen Schwelle auch sie einst eine starke Hand und eine freundliche Stimme hereinführen und an den Herd geleiten werden? ›Hier soll dein und mein Heim sein‹? Das sind die Worte, denen ihre Seele entgegenträumt.
Sie sieht sich immer wieder um; möchte gehen und kommt doch nicht fort.
»Warum schüttelst du den Kopf, Mütterchen?« fragt sie, indem sie ihr die Hand zum Abschied reicht. Nur um den Augenblick hinauszuzögern, wo sie wieder allein sein wird.
»Weil ich nicht begreifen kann, daß ein Mädel wie du so in der Welt herumläuft . . . Nicht ins heilige Land, in den heiligen Ehestand gehörst du!«
»O, mich will keiner!« stößt Isa hervor und wendet sich ab, während ihr plötzlich eine rote Welle über das Gesicht flutet.
»Was keiner! Der Weg nach Jerusalem ist weit. Sieh zu, daß dich nicht zu viele wollen! – Wenn nur einmal der König zum Rechten sehen und diese Landstreicherei verbieten würde!«
Da gräbt sich eine finstere Falte in Isas Stirn. Mund und Wangen erbleichen ihr immer mehr wie im Tode. Und jetzt zuckt gar ein Weinen um ihre Lippen, bevor sie die Worte formen:
»Das weiß ich besser . . . Es muß etwas an mir sein! Gleich am ersten Abend hat mich, als ich todmüde war, ein junger Ritter zu sich aufs Pferd genommen . . .«
»Siehst du!« schmunzelt die Alte. »Wundert mich gar nicht!«
»Ja, aber er hat mich in seinem Arm gehalten, als ob ich von Glas wäre; oder eine böse Schlange. Und da bin ich eingeschlafen. Und als ich wieder aufwachte, lag ich allein bei fremden Leuten auf einem Strohsack . . .«
»Und dann?«
»Da habe ich mich geschämt und bin noch vor Tag auf und davon gelaufen . . . – Siehst du, Mütterchen? – So!«
Und sie beinelt, das Weinen verbeißend und ihr letztes Wort aufs neue wahr machend, aus dem dünnen Schatten der Linde wieder in die volle Sonne hinaus.
Gott sei Dank! Das Wandern im Frühlingswind wird ihr den alten Mut und Trotz zurückgeben. Sie darf sich nicht so bald wieder zur Rast verlocken lassen.
Die grauhaarige Bäuerin aber schaut ihr nach, schüttelt den Kopf und wird aus der neuen Jugend nicht klug. Wenn ein junger Held einmal nicht glaubt, alles sei nur für ihn gewachsen, so ist's auch wieder nicht recht . . . Kinder! Kinder!
Isa wandert durch den Wiesengrund und blickt mit uneingestandener Sehnsucht nach den hohen Burgen, wo die Menschen miteinander leben und glücklich sind.