Zenjanisches Feuer. Raik Thorstad. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raik Thorstad
Издательство: Bookwire
Серия: Zenja
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958238329
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wie Szaprey sich plötzlich umwandte und rannte. Es war beinahe, als hätte er ihn gehört. Die ersten Schritte brachte er auf zwei Beinen hinter sich, krümmte sich dann jedoch, bis er auf allen vieren und mit gesträubtem Nackenfell auf den Hafen zujagte.

      Was Szaprey fürs Erste rettete, erwies sich bald als neues Problem. Die aufgebrachte Menge hieß das Herumstürmen des Roaqs nicht gut und Geryim spürte förmlich, wie die Stimmung umschlug. Hatte es vorher den Anschein gemacht, als würden sich die meisten mit dem Überfall abfinden, sahen einige nun ihre Gelegenheit, sich für die entstandene Schmach zu rächen.

      »Geryim!« Sothorn hatte sein Gesicht umfasst und schlug ihm auf die Wangen. »Sag mir, was geschieht!«

      Flatternd öffnete Geryim die Lider und stemmte sich gegen das zunehmende Reißen in seinen Schläfen. »Ich weiß es nicht!«, fauchte er. »Szaprey ist im Handwerkerviertel unterwegs. Er muss dort irgendeinen Blödsinn angestellt haben und ist auf einen Gegner gestoßen. Jetzt versucht er, zur Henkersbraut zurückzukommen, aber…«

      Bevor er fortfahren konnte, sah er vor seinem geistigen Auge ein Beil aufblitzen. Der ersten erhobenen Waffe folgten andere. Syv, der Szaprey gefolgt war, flog nun über die Lagerhäuser hinweg auf die Henkersbraut zu. Theasa tauchte in seinem Sichtfeld auf. Sie war auf einen Poller gesprungen und starrte ungläubig in die Richtung, aus der sich Szaprey näherte. Noch erkannte sie wahrscheinlich gar nicht, was geschah, aber das Umschlagen der Stimmung entging ihr sicher nicht.

      »Geht an Bord«, murmelte Geryim. Sein Herz raste, als würde er selbst durch eine fremde Stadt gejagt oder miterleben, wie vor seinen Augen aus gelähmtem Entsetzen Wut wurde. »Zieht die Planke ein. Sie werden angreifen.«

      »Nein…«, stieß Sothorn neben ihm aus. Eines der Kinder schien zu begreifen, was vor sich ging, und begann wieder zu weinen.

      Indessen hatte Szaprey fast den Kai erreicht. Einer der Stadtväter drohte Theasa, Kara und Morkar inzwischen offen, die anderen vier hatten ebenfalls den Ernst der Lage erkannt und riefen ihren Bürgern zu, die Ruhe zu bewahren.

      Es half nichts. Nur wenige Sprünge vor der Planke wurde Szaprey in die Seite getroffen. Geryim konnte nicht erkennen, durch wen oder was, aber er hörte den unmenschlichen Schrei, den sein Freund ausstieß. Er sah, wie er ins Torkeln geriet und sich abfing, nur um im letzten Augenblick von einem weiteren Angriff zu Boden gestoßen zu werden. Sobald er im Staub lag, verloren die Zenjaner die Beherrschung.

      Männer wie Frauen strömten auf die Henkersbraut zu. Die meisten versammelten sich um Szaprey, traten und schlugen nach ihm. Andere stürzten auf Theasa und ihre Begleiter zu und drängten sie gegen die Bordwand. Gleich darauf schossen die ersten Pfeile vom Deck des Schiffs und trieben einen Teil der Angreifer zurück. Eine Strickleiter flog über die Reling und bot den Eingekesselten einen Fluchtweg.

      Um Szaprey stand es schlimmer. Geryim konnte ihn längst nicht mehr sehen, sondern erahnte nur, dass sich unter dem Berg wütender Menschen noch etwas bewegte. Wie lange würde es wohl dauern, bis einer von ihnen einen Treffer landete, den selbst ein so zäher Haudegen wie Szaprey nicht verwinden konnte?

      Die Hilflosigkeit zerriss Geryim. Nichts unternehmen zu können, während einer der ihren um sein Leben kämpfte, war grausamer, als er sich je hätte vorstellen können. Warum griffen die anderen nicht ein? Warum richteten sie nicht eine der Schiffskanonen auf ein nahes Gebäude und setzten einen Warnschuss ab? Es hatte sich doch gar nichts geändert. Die Kinder waren immer noch in ihrer Hand. Das konnten die Zenjaner unmöglich vergessen haben.

      Da huschte eine andere Bewegung durch Syvs Sichtfeld. Jemand stürmte die Treppe zum oberen Laderaum herauf. Jemand, der zwar keine Rüstung trug, dafür aber eines der wuchtigsten Breitschwerter, die Geryim je gesehen hatte. Auch wenn der Schatten des Mastes die Gestalt verbarg, wusste er, wem diese Klinge gehörte.

      »Janis…«, flüsterte er tonlos. An seiner Seite vernahm er ein scharfes Einatmen und eine Frage, die er nicht verstand.

      Obwohl ausnahmslos alle Assassinen an Deck standen – die meisten mit Bögen bewehrt –, bemerkte offenbar keiner von ihnen, was vor sich ging. Erst, als Janis die Freitreppe zum Steuerrad erklomm und von dort auf den Kai sprang, stieg ein vielstimmiger Schrei auf. Theasas Krächzen war am deutlichsten zu vernehmen.

      Janis drohte niemandem und forderte niemanden heraus. Er lief mit gesenktem Kopf in die Menge hinein, als würde ihn sein ausgestrecktes Breitschwert nach vorn reißen. Geryims Knie wurden weich, als er das erste Blut aufspritzen sah. Es gehörte einem älteren Mann, der ungläubig auf die abgetrennte Hand zu seinen Füßen starrte, und sich nicht erklären konnte, wie sie dorthin gelangt war.

      Für einen Augenblick wurde es still im Hafen. Den Stadtvätern standen die Münder offen und die Bewohner Zenjas starrten den Verrückten an, der so sorglos in ihre Mitte gesprungen war. Selbst der Tumult um Szaprey hatte nachgelassen.

      Dann setzte eine Wellenbewegung ein. Ein erster Bürger trat einen Schritt nach vorn und stellte sich Janis entgegen. Ihm folgte ein weiterer. Dann zwei Frauen, die Dreschflegel in den Händen hielten. Das Letzte, was Geryim von Janis zu sehen bekam, war ein breites Grinsen. Dann wurde er von den Zenjanern überrollt.

      Wie durch einen Schleier wurde Geryim Zeuge, wie sich der Kampf verlagerte. Plötzlich sah er Szaprey, der auf allen vieren die Planke hinaufkroch. Er erlebte mit, wie sich die Luke zum Laderaum schloss und die Henkersbraut fast im selben Moment den Anker lichtete.

      Er wollte Theasa – oder wer immer den Befehl zum Auslaufen geben hatte – anschreien, sie daran erinnern, dass mit Janis das Herzstück ihrer Bruderschaft noch an Land war. Doch dann wurde ihm bewusst, dass niemand den Kampf gegen einen Mob überleben konnte. Nicht einmal einer von ihnen. Janis hatte sich für sie in die Bresche geworfen und Theasa würde nicht erlauben, dass sein Opfer vergebens war.

      Geryim verlor den Zugriff auf Syvs Sinne, als ihn ein harter Schlag am Kinn traf. Sothorns erhobene Faust tauchte vor ihm auf und versprach weitere Prügel, wenn er nicht sofort zu sich kam.

      »Red mit mir! Was geht da vor sich?«, forderte Sothorn zweifelsohne zum wiederholten Male.

      In Geryim stieg eine Ernüchterung auf, wie er sie selten empfunden hatte. Teilweise fußte sie auf Erschöpfung. Er nutzte Syvs Augen selten so lange. Doch in erster Linie nährte sie sich aus Leere. Tatsächlich kam es ihm vor, als hätte ihm jemand ein Stück Fleisch aus der Brust gerissen und nichts als einen Hohlraum zurückgelassen.

      »Janis ist tot.« Er war nicht in der Lage, die Wucht der Nachricht abzudämpfen oder zu erklären, dass Janis in diesem Moment vielleicht noch atmete, aber trotzdem unrettbar verloren war. »Die Henkersbraut verlässt gerade den Hafen.«

      In Sothorns Augen spiegelte sich dieselbe schmerzhafte Verwirrung wider, die auch Geryim empfand. Ihm war anzusehen, dass ihm hundert Fragen auf der Zunge lagen. Geryim war dankbar, dass er sie nicht stellte, denn er hätte sie nicht beantworten können. Auch er konnte nicht fassen, was geschehen war, oder wie es dazu kommen konnte. Wie sollte er sich da jemandem erklären, der kein Augenzeuge gewesen war?

      Sothorn fing sich zuerst. Er sah zu Boden, rieb sich heftig im Nacken, als hätte ihn ein besonders angriffslustiges Insekt gestochen, und murmelte dann: »Wir müssen die Kinder gehen lassen. Und dann von hier verschwinden.«

      Geryim nickte schwerfällig. Es waren kluge Worte, wahre Worte, aber sie drangen nicht ganz bis zu ihm vor.

      Deshalb war es Sothorn, der eine Fessel nach der anderen durchtrennte, Sothorn, der sich einen letzten Tritt von dem kampflustigen Mädchen einfing und ebenfalls Sothorn, der den Kindern sagte, dass sie nach Hause laufen sollten.

      Geryim stand indessen wie in Eisfäden eingewoben an seinem Platz und sah hinaus auf das Ackerland. Mit einer befremdlichen Mischung aus Hass und Sorge fragte er sich, wie es um Szaprey stehen mochte. Er wollte keinen weiteren Freund verlieren. Gleichzeitig zuckten seine Finger vor Gier, sich um Szapreys haarige Kehle zu schließen. Ohne sein unbedachtes, eigenmächtiges Handeln wäre kein einziger Tropfen Blut vergossen worden. Genauso, wie Sothorn es sich gewünscht hatte.

      Wenigstens hatten sie den Kindern nichts antun müssen.