Zenjanisches Feuer. Raik Thorstad. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Raik Thorstad
Издательство: Bookwire
Серия: Zenja
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958238329
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Bergwiese oberhalb des Flusslaufs war ein ebenso guter oder schlechter Rastplatz wie jeder andere auf dieser verfluchten Insel. Geryim sprang auf einen hohlen Baumstamm und spähte in die Ferne, konnte aber bisher keine Verfolger erkennen. Er machte sich nichts vor: Sie würden kommen, spätestens dann, wenn das ungleiche Geschäft im Hafen abgewickelt war.

      Als er seinen Aussichtspunkt verließ, hatte Sothorn die Kinder in der Nähe eines schräg in den Himmel ragenden Monolithen zusammengetrieben. Inzwischen weinte keines mehr. Selbst die kleine Wildkatze, die als Einzige einen Fluchtversuch gewagt hatte, wirkte zu erschöpft, um weiter auf dumme Gedanken zu kommen. Dennoch nahm Geryim sich vor, in ihrer Nähe vorsichtig zu sein. Sie hatte Sothorn bereits zweimal gebissen und Geryim mit ihren Holzschuhen so kräftig vors Schienbein getreten, dass er das Pochen noch immer spürte.

      »Ist Syv schon in der Stadt?«, erkundigte sich Sothorn, während er seinen Umhang auf dem Boden ausbreitete und die Kinder knapp anwies, sich hinzusetzen.

      »Gleich.«

      Anfangs war Syv in ihrer Nähe geblieben, um ihre Flucht zu überwachen und Geryim über die Geschehnisse aus der Siedlung auf dem Laufenden zu halten. Natürlich hatte der Lehrer sämtliche Bewohner zusammengeschrien, bevor er in die Stadt aufgebrochen war. Entsprechend herrschte dort große Aufregung, aber bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich Syv von seinem Posten gelöst hatte, hatten sich keine Helden gefunden, die den Kindern nachgeeilt wären. Inzwischen mochte es anders aussehen.

      Theasas Plan hatte eine Schwachstelle, was Geryim und Sothorn betraf. Er konnte nur hoffen, dass sie ihnen nicht teuer zu stehen kommen würde. Gerade Sothorn zahlte ohnehin schon einen zu hohen Preis.

      Mit gerunzelter Stirn sah Geryim zu, wie Sothorn leise auf die Kinder einredete. Was genau er ihnen sagte, konnte er nicht verstehen. Aber es hätte ihn sehr gewundert, wenn es nicht das Versprechen gewesen wäre, dass ihnen nichts zustoßen würde. Schon unterwegs hatte er versucht, ihnen die größte Angst zu nehmen und ihnen versichert, dass sie nichts zu befürchten hätten.

      »Wenn ihr brav seid, heißt das«, hatte Geryim hinzugefügt, um zu verhindern, dass aus entspannten Kindern langsame Kinder wurden. Er hatte an Ailys kleine Tochter Gilla und all die anderen kleinen Bruderschaftler gedacht, die auf einem abgelegenen Eiland auf die Rückkehr der Henkersbraut warteten, und sich ein bisschen gehasst.

      Das tat er auch jetzt, während er zusah, wie Sothorn den Führstrick mit einem schwer zu lösenden Seemannsknoten an einen Busch band und gleich darauf zum Wasser hinunterlief, um seinen leeren Schlauch zu füllen. Seine Bewegungen waren genauso geschmeidig wie am Morgen, als sie aufgebrochen waren, aber er war wachsbleich im Gesicht und sein Blick so leer, dass es Geryim innerlich beutelte. Er hatte vor langer Zeit begriffen, dass Sothorn im Grunde seines Herzens ein mitfühlender Mensch war. Nur das Schicksal hatte verhindert, dass er diese Seite an sich selbst kennenlernte, und nun bereitete sie ihm Schwierigkeiten.

      Und du bist ein liebeskranker Narr, wies Geryim sich selbst zurecht. Stehst dumm herum und zerbrichst dir mitten in einem Auftrag den Kopf über Sothorns Herz. Dabei hing es ab diesem Zeitpunkt maßgeblich von ihm ab, ob sie mit heiler Haut davonkommen würden.

      Als Sothorn mit dem vollen Wasserschlauch zurückkam, nahm Geryim ihn beiseite. »Hältst du ein Auge auf die Kinder? Ich will mir ansehen, was in der Stadt geschieht, und das wird mich einiges an Aufmerksamkeit kosten.«

      Sothorn sagte nichts, nickte nur.

      Geryim widerstand dem Drang, ihm die Hand auf die Schulter zu legen, ihn zu küssen und auch allen anderen aufmunternden Gesten. Dafür würde er sich später Zeit nehmen.

      Unwillig kehrte er zu dem Baumstamm zurück und setzte sich. Gleichzeitig tastete er behutsam nach Syvs Sinnen und spürte dessen Einladung. Sie war von großer Aufregung überlagert. Eine fremde Stadt lag unter ihm und mit ihr viele Menschen, von denen die meisten so aufgebracht waren, dass selbst ein Adler es merkte.

      Lass mich sehen, bat Geryim sanft. Setz dich auf einen Giebel und ruh dich aus, während ich mir deine Augen leihe. Dir steht heute noch ein langer Flug bevor.

      Einen Moment später tauchte in seinem Geist das Bild eines Hafengeländes auf. Geryims eigene Augen wurden durch die Verbindung jedoch nicht blind, sodass es für ihn wirkte, als wären die steinernen Mauern und wuchtigen Wachtürme von blassem Gras bewachsen.

      Sofort entstand ein Spannungsgefühl hinter Geryims Stirn und er schloss die Lider, um seine Sicht auf ein Bild zu begrenzen.

      Syv hatte recht: Im Hafen herrschte große Unruhe. Die Henkersbraut lag vor Anker und war über eine breite Planke mit dem Kai verbunden. Um sie herum hatte sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt. Dennoch war es in diesem Teil der Stadt erstaunlich still. Nur das Rollen von schweren Fässern, die über die Planke donnerten, war zu hören.

      An einem leeren Anlegeplatz neben ihrem Schiff entdeckte er Theasa. Sie beaufsichtigte die Anlieferung der Fässer. Kara und Morkar standen mit gezückten Schwertern neben ihr.

      Ihnen gegenüber hatten sich fünf Männer in der Tracht der Zenjaner aufgebaut. Die blinkenden Ketten um ihre Hälse ließen vermuten, dass es sich um die Stadtväter handelte. In ihrer Körpersprache las Geryim eine Mischung aus Zorn und Angst, in ihren Gesichtern Hass und Entrüstung. Das war nicht weiter verwunderlich, nachdem man sie hatte wissen lassen, dass einige ihrer Kinder als Geisel genommen worden waren und nur für den gesamten Bestand an Zenjanischem Lotus in ihren Lagerhäusern wieder freikommen würden.

       »Es scheint alles nach unseren Wünschen zu verlaufen. Sie haben sich unseren Forderungen unterworfen«, berichtete Geryim, ohne die Augen zu öffnen.

      Er erhielt keine Antwort, doch Sothorn murmelte etwas, das an die Kinder gerichtet sein musste. »Hört ihr? Bald könnt ihr zurück zu euren Eltern.« Er klang so angestrengt, dass Geryim seine Stimme ausblenden musste.

      Im Hafen bat er Syv, sich auf seinem Platz auf dem Giebel etwas zu drehen. Er wollte mehr von der Stadt sehen und besonders das Tor zum Inland im Auge behalten, ob dort vielleicht Reiter ausrückten. Es hatte den Anschein, als wäre ausnahmslos jeder Bewohner auf den Beinen. Viele hatten sich in kleinen oder größeren Gruppen versammelt. Andere säumten den kurzen Weg vom Lagerhaus zum Hafen und beobachteten, wie die Fässer verladen wurden.

      Geryim wünschte, er wäre von Anfang an dabei gewesen, um zu zählen, wie viele in den Laderäumen der Henkersbraut verschwanden.

      Plötzlich ruckte Syv mit dem Kopf und flog auf. Geryim wurde kurz schwindelig, als die Welt unter ihm zu kreisen begann. Dann gewöhnte er sich um und verfolgte Syvs Flug. Dessen unmenschlich scharfe Augen hatten im Kern der kleinen Stadt eine Bewegung erfasst. Zu Geryims Sorge erkannte er, dass es in einer engen Gasse zu einem Handgemenge gekommen war. Zwei Gestalten gingen aufeinander los, die eine unbewaffnet, die andere mit einer Streitaxt in der Hand. Aus Sorge wurde Schrecken, sobald Geryim den waffenlosen Kämpfer erkannte: Es war Szaprey.

      Kälte sickerte ihm in den Nacken. Was tat Szaprey so weit vom Hafen entfernt? Und was hatte er angestellt, dass einer der Zenjaner alle Vorsicht in den Wind geschlagen und ihn angegriffen hatte?

      Hilflos musste Geryim zusehen, wie Szaprey von gewaltigen Axthieben rückwärts getrieben wurde. Er hatte die Lefzen hochgezogen und die mit Krallen bewehrten Hände erhoben, doch die Reichweite der Streitaxt war zu groß, als dass er sie unterlaufen und einen Angriff hätte wagen können. Warum nur hatte dieser dreimal verfluchte Roaq keine Waffe bei sich? Wusste Theasa überhaupt, dass er die Henkersbraut verlassen hatte?

      Geryim hielt es nicht länger auf seinem Platz. Er sprang auf die Beine. Was in jener Gasse geschah, konnte nicht nur ihre Pläne zum Scheitern bringen. Es sah auch danach aus, als hätte sich Szaprey in eine ausweglose Lage manövriert. Ausgerechnet ihr fähigster Heiler und zugleich der Mann, dem Geryim sich in vielerlei Hinsicht am engsten verbunden fühlte. Der sein Freund war.

      »Verdammt!«, entfuhr es ihm, als Szaprey rückwärts über eine Steinkante stolperte und kaum rechtzeitig auf die Beine kam, um der niedersausenden Axt auszuweichen. »Lauf, verfluchter Flohhaufen!«

      Auf einmal stand Sothorn neben ihm. »Was ist los?«

      »Schwierigkeiten.