Als er das junge Mädchen näher kommen sah, warf er hastig seinen Verrat in den Schnee, straffte sich und blickte der Gestalt entgegen. Er war jung, unerfahren und wollte sich dringend beweisen. Zudem genoss er das Gefühl der Macht, das mit seiner Uniform einherging. Die Chance, seine Überlegenheit einmal völlig allein auszukosten, ließ er sich daher nicht entgehen.
»Anhalten«, brüllte er so autoritär wie er es vermochte und damit erheblich lauter als nötig.
Augenblicklich erstarrte Sirany in ihrem Schritt. Vorsichtig hob sie den Kopf, um einen Blick auf ihr Gegenüber zu erhaschen. Als sie die Soldatenuniform erkannte, übersprang ihr Herz glatt einen Schlag. Dann wummerte es in ihrer Brust wie eine durchgehende Pferdeherde.
»Was machst du hier?«, bellte der Mann in einem Ton, der sie bis in die Knochen erzittern ließ. »Warum gehst du hier entlang? Das ist verboten.«
Natürlich war das verboten. Aber bisher hatte sie niemand erwischt.
Sirany machte einen unschlüssigen Schritt zurück und überlegte, ob sie die Zeit hatte, sich umzudrehen und die Flucht in das Dorf zu wagen. Möglicherweise konnte sie sich dort verstecken.
Der Soldat stand jedoch zu nahe, hatte sie sogar bereits am Umhang gepackt. Sekunden später riss er ihr die Kapuze vom Kopf und starrte sie verdutzt an.
Über die Jahre hinweg hatten sie und ihre Eltern es zu vermeiden gewusst, Sirany in der Öffentlichkeit zu zeigen. Stets war sie den unauffälligsten Weg gegangen, stets den Soldaten ausgewichen. Nun war das eingetreten, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte.
Auch dem Soldaten dämmerte, was er da vor sich hatte. Eine Trophäe, eine Seltenheit in diesem Bezirk. Sein Lehnsherr würde sich als sehr dankbar erweisen, wenn er ihm dieses Juwel zuführte.
Sirany las in seinen Augen, was er dachte; er versäumte es, in den ihren zu lesen. Mit der Kraft der Verzweiflung schlug sie ihm die Faust ins Gesicht, riss sich los und sprang an ihm vorbei.
Ein trainierter Soldat war bestimmt auf offenem Feld schneller als sie, daher rannte sie nicht zurück ins Dorf, sondern auf den Fluss zu. Dahinter erstreckte sich unbeweglich der schneeverhangene Wald, sprach von Sicherheit und Geborgenheit – wenn sie ihn denn erreichen konnte.
Der Schlag ins Gesicht hatte den Soldaten nur überrascht und nicht verletzt. Nun wirbelte er mit einem wütenden Schrei herum und sprang ihr hinterher, bekam einen Zipfel ihres Umhangs zu packen und wollte sie zurückreißen.
Sirany befreite sich im letzten Moment von dem störenden Kleidungsstück, stolperte vorwärts und hielt nun direkt auf eine winzige Holzbrücke zu. Im Wald kannte sie sich aus, dort konnte sie auch ihre Wendigkeit zu ihrem Vorteil nutzen. Aber erst einmal musste sie die Baumgrenze erreichen.
Ihr wurde klar, dass sie es nicht schaffen würde, als sie den ersten Fuß auf die alte Holzbrücke setzte. Der junge Mann, mit längeren Beinen und größerer Schnelligkeit ausgestattet als sie, hatte sie erreicht, noch bevor sie über die Hälfte der Planken gehuscht war.
Mit einem Triumphgeheul warf er sich auf sie, packte sie an der Taille und zerrte sie zurück auf das gegenüberliegende Ufer. Sirany schlug wild nach ihm, versuchte ihn zu treten und zu beißen. Er fing spielend leicht ihre Fäuste ab. Gleich darauf versetzte er ihr einen Hieb ins Gesicht, der sie rücklings zu Boden schleuderte.
Er setzte ihr nach, drückte sie mit seinem ganzen Gewicht hinunter und hockte sich rittlings auf sie. Mit einer Hand hielt er ihre beiden Hände fest, presste sie weit über ihrem Kopf in den Schnee, während er mit der anderen ihren Hals umklammerte und anfing, sie zu würgen.
Augenblicklich erlahmte Siranys Gegenwehr. Sie hatte dieses tödliche Glitzern schon oft in den Augen junger Soldaten bemerkt, die in ihren kurzen Leben zu viele schlimme Dinge hatten sehen müssen.
Erst als sie sich kaum noch rührte, gab der Mann ihren Hals frei, um sich nun über sie zu beugen und sie breit anzugrinsen.
»Na, mein Täubchen? Was mache ich nun mit dir?«
In seinem Blick sah Sirany, dass es eine rein rhetorische Frage war. Er wusste sehr genau, was er mit ihr machen wollte. Er verlagerte leicht sein Gewicht, drückte nun mit dem Gesäß ihren Bauch in den Schnee, presste sie an den Boden.
Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Kalte Angst ergriff sie, während der eisige Schnee jede Ritze ihrer Kleidung eroberte und sich durch ihre Knochen fraß. Gleichzeitig hämmerte ihr Herz, als wollte es zerspringen, steigerte sich sogar, als der Mann mit der freien Hand über ihren Busen glitt.
Sie schrie auf, wand sich unter ihm. Er hielt sie eisern am Boden und erfreute sich an ihrer Panik.
Sie hörte den Fluss plätschern. Keine zwei Fuß neben ihrem Kopf befand sich die kleine Böschung, die hinunter zum kalten Wasser führte. Konnte sie ihn dort hineinstoßen? Über den Rand hinweg?
Sie verwarf diesen Gedanken wieder, als er mit seiner eiskalten Hand über ihre Kleidung huschte, sich einen Weg zu ihren Beinen suchte. In den glitzernden Augen des Soldaten sah sie plötzlich aufkommende Erregung, vermischt mit dem berauschenden Gefühl, jemand anderen in der Gewalt zu haben.
Mit dem Mut der Verzweiflung unternahm Sirany eine letzte Kraftanstrengung, zog die Beine an und trat mit den angewinkelten Knien nach ihm.
Sie traf seinen Rücken. Durch den unverhofften Stoß fiel er nach vorn und lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk gerade genug, dass sie sich befreien konnte. Wild schlug sie ihm beide Hände ins Gesicht, drückte ihn von sich fort und versuchte von ihm wegzukrabbeln, doch er packte sie an den Haaren und riss sie zu ihm zurück.
Auf den Knien hockend kämpften sie weiter verbissen miteinander. Er hatte die Hände in ihren Haaren verkrallt, während sie seine Handgelenke umklammert hielt.
Siranys Kräfte erlahmten und allmählich ahnte sie, dass es für sie keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Das Einzige, was ihr übrig blieb, war, auf seine Gnade zu hoffen. Auf eine Gnade, die der Mann in seiner Erregung nicht kennen würde.
Doch dann bemerkte sie am Waldrand eine Bewegung. Es war nur ein kurzes Rascheln der Zweige, eine winzige Veränderung unter einem Baum. Sie sah niemanden, spürte aber, dass dort etwas war.
Etwas, was sie beobachtete.
Gerade wollte sie der Soldat wieder in den Würgegriff nehmen, als der Schatten am Waldrand plötzlich Gestalt annahm. Ein Mann trat zwischen den Bäumen hervor, einen Bogen im Anschlag, den Pfeil bereits auf der Sehne. Er zögerte nicht eine Sekunde, zielte kurz und schoss.
Sirany hörte den dumpfen Aufschlag des Pfeils direkt neben ihrem Ohr. Genau dort, wo sich der Hals des Soldaten befinden musste. Es folgte ein wilder Schmerzenslaut, danach ein seltsames Gurgeln.
Anstatt sie endlich freizugeben, krallte sich der Mann an ihr fest, wollte sie selbst in seinem Todeskampf nicht freilassen.
In Panik schlug Sirany erneut nach ihm und sprang aus der Hocke nach vorn, in der Hoffnung, ihm so entkommen zu können. Zu spät fiel ihr ein, dass sich dort die Uferböschung befand – und die führte direkt hinab in den eiskalten Fluss.
Ehe sie es sich versah, rutschte sie haltlos das kurze, steile Stück hinunter. Sekunden später umhüllte sie der eisige Fluss mit seinem kalten Nass, riss sie mit seiner ganzen Kraft vom Ufer fort in seine Mitte, genau dahin, wo der Strom am stärksten war. Normalerweise schlummerte der Dorffluss friedlich vor sich hin, nur nicht zu dieser Jahreszeit. Dann schwoll er zu einer bedrohlichen Sintflut an, riss alles mit sich, was sich in seine Fänge begab.
Genauso verfuhr er nun auch mit Sirany, lähmte sie zuerst mit seiner Kälte und versuchte anschließend, sie in den dunklen Tiefen zu ertränken.