Der Gesang des Sturms. Liane Mars. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liane Mars
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959913478
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      Am dritten Tage nach ihrer Geburt rechnete ihre Mutter mit ihrem letzten Atemzug. Stunde um Stunde zog sich dahin, ohne dass Sirany die Welt, die sie bislang nur so kurz besucht hatte, wieder verließ.

      Am vierten Tage trank sie endlich. Nicht gierig. Gerade so viel, um am Leben zu bleiben und die Kraft zu haben, auch am nächsten Tag ein wenig zu trinken.

      Der Priester kam am fünften Tag, um sie für ihren Gott zu weihen. Er kam spät, denn der Schneesturm hatte ihn aufgehalten. Tausendmal entschuldigte er sich, bevor er endlich sein Weihwasser hervor­kramte. Vielleicht half das dem Baby ins Leben.

      Siranys Mutter hatte Angst vor diesem Moment. Ihr Mann war sich sicher, dass das Kind gerade so lange hatte leben wollen, um geweiht zu werden. Dann, so der Vater, werde es dieser Welt wieder entschwinden.

      Tatsächlich verweigerte das Baby am nächsten Tag die Nahrung. Am darauffolgenden Tag war es dasselbe – bis es wieder so schwächlich war wie bei seiner Geburt.

      Vater und Mutter wachten von Stund an vor dem kleinen Bettchen. Der Vater hatte es eigens für ihr allererstes Kind voller Liebe und Vorfreude gezimmert. Während draußen weiterhin der Schneesturm wütete, als wollte er die Welt aus den Angeln heben, verschlechterte sich der Zustand des Kindes zusehends. Mit jeder Böe, die zornig gegen das erst vor Kurzem errichtete Heim peitschte, entrückte das Kind mehr dieser Welt; mit jeder Schneeflocke, die aus den dunklen Wolken zu Boden segelte, verloren die Eltern an Mut – bis zu dem Moment, als der Sturm urplötzlich aufhörte.

      Es war nicht so, dass nach und nach keine Flocken mehr zu Boden schwebten oder der Wind abflaute, sondern von einer Sekunde auf die nächste verschwand das Unwetter, als hätte es nie existiert.

      In derselben Sekunde, in der die letzte Schneeflocke auf die Veranda fiel, fing das Kind an zu schreien. Es schrie und schrie aus seiner winzigen Lunge, der man derlei Laute gar nicht zugetraut hätte. Die Kraft, die aus diesem Schrei sprach, zeugte von einem unbändigen Überlebenswillen; von einem Geist, der in dieser Welt verbleiben und sich nicht vertreiben lassen wollte.

      Von diesem Moment an trank das Baby. Es wurde zunächst nicht so kräftig wie andere Kinder in diesem Alter, doch wurde es zusehends stärker, wuchs und war so gut wie nie krank. Andere Kleinkinder wurden geboren und verließen die Welt wieder. Sirany blieb.

      An ihrem fünften Geburtstag zog wieder ein Sturm herauf. Schneeflocken fielen dicht an dicht zu Boden und bedeckten jeden Fleck Erde, den sie erobern konnten. Der wilde Wind fuhr in die Äste und Zweige der Bäume, rüttelte und zerrte an ihnen, bis sie nachgaben und mit einem Knirschen zu Boden fielen.

      Am gleichen Tag fielen die Shari über Siranys Welt her, unterwarfen ihr Volk und vernichteten ganze Familien – einfach nur, um ihre neue Herrschaft unter Beweis zu stellen. Das alles geschah so schnell, dass viele erst Wochen später erkannten, was für ein Grauen sie ereilt hatte.

      Nur wenige stellten sich den plündernden Scharen der Shari entgegen und das hatte einen ganz bestimmten Grund. Siranys Volk, die Farreyn, bestand zum Großteil aus Bauern, die jeden Tag mit der Natur zu kämpfen hatten. Mit Schwertern einem anderen Volk entgegenzutreten war ihnen neu.

      Daher war es nicht verwunderlich, dass der Feldzug der Shari nicht lange andauerte. Innerhalb von drei Wochen hatten sie das magere, unerfahrene Heer des Königs der Farreyn unterworfen, die Adeligen entmachtet und den Thron an sich gerissen. Der König selbst verschwand von der Bildfläche dieser Welt, ermordet in den finsteren Gewölben seiner eigenen Verliese. Allein und unbemerkt.

      Statt ihm bestieg der Herr der Shari den Thron, der sich als alleiniger Gott und Herrscher ansah. Wild entschlossen, seine Macht sogleich unter Beweis zu stellen, erließ er Tausende von neuen Gesetzen. Schwindelerregend hohe Steuern wurden erhoben, das Vieh den Bauern entrissen und die Äcker an sharische Adelige verschenkt. Siranys Volk konnte nichts mehr ihr Eigen nennen. Die einzige Ausnahme betraf ihr nacktes Leben – und dieses wollten die wenigsten durch eine Revolte verlieren.

      Siranys Eltern taten das, was die anderen ebenfalls machten. Sie zogen die Köpfe ein und hofften, der Sturm möge an ihnen vorüber­gehen. Heerscharen von fremden Soldaten zogen durch ihr kleines Dorf; brandschatzten, mordeten, plünderten. Doch das Haus der kleinen dreiköpfigen Familie blieb unbehelligt.

      Mit den Soldaten kamen die Händler, die mit etwas handeln wollten, was niemand kaufen konnte. Es war eine dunkle Zeit, voller Hunger und Verzweiflung.

      Sirany betrachtete diese Welt voller Staunen. Sie sah grimmige Soldaten an sich vorüberziehen, genauso hungrig wie sie und voller Hass auf ihr hartes Los. Das Klirren Tausender Waffen wurde zu einem beständigen Gesang, der sie abends in den Schlaf wiegte, während sie sich die zitternden Männer draußen in der Kälte vorstellte.

      Sie bedauerte sie, obwohl sie ihr Land überfallen und niedergerungen hatten. Alles, was sie registrierte, waren die erschöpften, traurigen und kranken Männer dort draußen, die um ihr Leben kämpften.

      Nach den Händlern und Soldaten kehrte endlich etwas Normalität in den Alltag der Unterworfenen zurück. Das Leben war hart, meist knapp an der Grenze zum Verhungern, doch es war erträglich.

      Das fremde Volk führte indes nach und nach seine Sitten ein, verbot den Gott der Farreyn, verbrannte ihre Kirchen und führte seine eigene Religion ein. Alexej, König der Shari, durfte nur noch als einziger wahrer Gott angebetet werden. Volksversammlungen wurden schwer bestraft, Feste durften nicht gefeiert werden. Die Toten wurden begraben und nicht mehr verbrannt – und die Kinder bekamen andere Namen.

      Nach und nach verlor Siranys Volk seine Identität. Überall dort, wo man sie bewahren wollte, wurde sie ihm mit einer Brutalität genommen, die weitere Versuche sofort im Keim erstickte.

      Sirany hieß fortan Saka. Sie wurde in das neue Geburtenregister unter diesem Namen eingetragen, ihre Eltern verzeichnet und als Staats­bürgerin der Shari anerkannt. Allerdings mit dem Vermerk L. Leibeigene.

      Ihr Lehnsherr hieß Kamu. Numa Kamu. Er war ein grausamer Mann. Seine Familie hatte in seinem eigenen Land nur einen winzigen Fleck Erde, auf dem sie leben konnten. Während der Streifzüge mit seinem Herrn hatte er sich Ehre erworben und somit eine der größten Ländereien der Farreyn errungen.

      Voller Stolz und Pflichtgefühl, seiner Familie weiterhin gut zu dienen, machte er sich ans Regieren. Disziplin und Züchtigungen hatte er von der Pike auf gelernt. Seine harte Erziehung übertrug er nun auf seine Untergebenen durch strenge Gesetze und noch härtere Strafen bei Verstößen.

      Dieses Verhalten allein trug ihm nicht seinen Spitznamen ein, mit dem er Jahre später in den Geschichtsbüchern erscheinen sollte.

      Er war Numa Kamu der Unersättliche. Sonst lasterfrei, von seiner angeborenen Grausamkeit einmal abgesehen, konnte er nicht von den Frauen lassen.

      Die jungen hatten es ihm angetan. Die jungen, hübschen und unerfahrenen. Sie durften nicht viel Speck auf den Hüften haben, was ihn zu dem Wahn veranlasste, seine Untergebenen hungern zu lassen.

      Wer sich verweigerte, wurde genommen.

      Von nun an lebten Siranys Eltern in der ständigen Angst, der verrückte Lehnsherr könne auf ihre kleine Tochter aufmerksam werden. Kinder ließ der Mann in Ruhe, doch sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten und seinen Anforderungen entsprachen, waren sie nicht mehr vor ihm sicher.

      Zu ihrem Leid entwickelte sich Sirany zu einer ansehnlichen jungen Frau. Der Babyspeck verschwand ebenso wie die ungelenken Bewegungen. Sie hielt sich aufrechter als so manch andere, blickte mit neugierigen, von dichten, langen schwarzen Wimpern umrahmten Augen in eine ihr fremde Welt.

      Aus den Härchen eines Neugeborenen wurden schwarze, lange Haare, die ihr wie ein dunkler Fluss den Rücken hinunterrannen. Meist wurden sie zu einem dicken Zopf geflochten und streng hochgesteckt, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen.

      Ihre grünen Augen konnte man schlecht verstecken. Ebenso wenig wie ihr anziehendes Lächeln, das ihr gesamtes Gesicht erstrahlen ließ, als sei die Sonne gerade in ihr aufgegangen.

      Nein, Sirany konnte man