Viele Jahre zogen vorüber. Die Zeiten wandelten sich, genau wie die Stimmung im Volk.
Als Sirany gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, ging eine fast unerklärliche Unruhe durch die unterdrückten Farreyn. Sie witterten die Freiheit, die der Frühling wie jedes Jahr versprach.
Dieses Jahr jedoch waren sie bereit, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen.
Tage später wurde der gerade eingekehrte Friede wieder jäh von Schwerterklirren durchbrochen. Notdürftig zusammengezimmerte Klingen trafen auf die scharf gewetzten Schwerter erfahrener Soldaten. Die Bauern kämpften mit dem Mut der Verzweiflung – mit einer Tapferkeit, die sie vor fünfzehn Jahren nicht hatten aufbringen können. Genau wie es vor so vielen Jahren bereits abzusehen war, konnte der Sieg der Freiheit nicht errungen werden.
Immerhin brachten die Bauern aus Siranys Volk den fremden Soldaten so viele Verluste bei, dass der König begann, sich Sorgen zu machen. Er hatte nicht mit einem Aufstand gerechnet, nicht von einem Volk voller Bauern, und schon gar nicht hatte er sich auf die grimmige Miliz vorbereitet, die sich innerhalb eines Monats formierte und nun sogar mit Taktik gegen den Feind vorrückte.
Der König war kein dummer Mann und auf der Nase ließ er sich nicht herumtanzen. Er hatte einen Trumpf im Ärmel, den er nun hervorzog.
Keine zwei Tage später hielten die Assaren Einzug in das von Krieg gebeutelte Land. Ein jeder dieser Krieger war in der Lage, gegen ein halbes Dutzend Bauern zu kämpfen und zu gewinnen.
Man sagte ihnen schnell Magie nach, denn sie kamen wie der Tod, leise, fast unbemerkt und ebenso effektiv. Wer mit der Klinge dieser Männer Bekanntschaft gemacht hatte, konnte später nicht mehr darüber erzählen.
Sie waren Schatten in Siranys Land. Schatten, die töteten, wenn sie hervortraten, und leise wieder verschwanden.
Niemand wusste etwas über dieses Volk, aber es war da und es schlug die Revolte so schnell nieder, wie sie gekommen war.
Als wieder Ruhe einkehrte, nahmen die überlebenden Bürger an, mit dem Krieg hätten auch die Assaren das Land verlassen. Die Einzige, die vom Gegenteil überzeugt war, war Sirany. Das hatte einen ganz bestimmten Grund. Sirany hatte die Assaren gesehen und als solche erkannt. Sie wusste, dass sie weiterhin da waren.
Vor einigen Wochen waren die Assaren durch ihr Dorf geritten. Keiner der Dorfbewohner hatte bemerkt, wen er dort vor sich hatte, und nur Sirany ahnte, was die wahre Identität der unauffälligen Männer war.
In ihre dicken, dreckigen Umhänge gehüllt, die Köpfe gesenkt und die Ponys struppig und mager, hatten sie nicht viel anders ausgesehen als jede andere Reitergruppe. Sirany jedoch hatte gespürt, dass dem nicht so war. Neugierig war sie den fremden Männern ein Stück des Weges gefolgt und hatte beobachtet, wie sie in den Tiefen des angrenzenden Waldes ihr Lager aufbauten und dort fortan blieben.
Sirany war fasziniert von ihnen. So düster sie nach außen hin erschienen, wirkten sie dennoch nicht wie die Mörder, von denen man ihr erzählt hatte. Sie sahen eher wie eine von Kummer und Pein erdrückte Gruppe besiegter Soldaten aus. Dieses Bild setzte sich in Siranys Kopf fest und führte dazu, dass sie die Assaren eher mit großer Neugierde denn mit Furcht betrachtete.
Ihre Faszination für dieses Volk wuchs sogar, als sie Wochen später feststellte, dass sich die Anzahl der Männer reduziert hatte. Zwei von ihnen waren gestorben, wie sie nach Auffinden zweier Grabstellen feststellte. Die geheimnisvollen Krieger waren keineswegs so unsterblich, wie das Gerücht verbreitete.
Ganz entgegen der Sitte der Shari mussten sie die Toten erst verbrannt und danach die Asche in einem kleinen Hügelgrab beigesetzt haben. Das erkannte Sirany schon allein an der Größe der Gräber. Es waren Urnengräber, die vom König der Shari verboten worden waren. Fast liebevoll waren einige wenige Blumen gepflanzt und zwei Schwerter in die Erde gesteckt worden. Vermutlich ein Zeichen für einen Brauch, den Sirany nicht kannte. Die Schrift auf den scharfen Klingen konnte Sirany nicht entziffern, geschwungene Runen wie gemalte Bilder, mystisch und geheimnisvoll.
Fast wie ein Zwang, den sie nicht unterdrücken konnte, legte auch Sirany eine kleine Handvoll Blumen auf die Gräber, ging fort und kam zwei Tage später, um die verwelkten Pflanzen voll schlechten Gewissens wieder fortzunehmen.
Hätte man sie dabei beobachtet, wie sie dem Feind die letzte Ehre erwies, so hätte ihr Volk sie des Verrats bezichtigt. Doch im Tode waren nach Siranys Ansicht alle gleich – und ein paar Blumen als Ehrerbietung würden schon niemanden in Schwierigkeiten bringen.
Eines, das wusste sie genau, war ihr verboten. Niemals, zu keiner Zeit durfte sie den Männern helfen. Viele ihrer Landsleute hatten durch ihre Hände den Tod gefunden. Sie hatten verhindert, dass ihr Volk seine Freiheit erlangte. Ein guter Grund, um die Assaren als Feinde zu bezeichnen.
Ihren Schwur musste sie ein halbes Jahr später gründlich überdenken, nachdem sie Blutspuren im Wald gefunden hatte.
Erst dachte sie, es wäre das Blut eines Tieres. Sie folgte der Spur in der Hoffnung auf leichte Beute, denn auch ein Farreyn-Mädchen konnte durchaus jagen, musste aber bald ihren Irrtum einsehen. Anstatt auf ein verwundetes Reh zu stoßen, führte sie die Fährte geradewegs auf das Lager der fremden Männer zu.
Der Grund für das Blut auf dem Boden war nicht schwer zu ergründen. Einer von ihnen musste verletzt sein, blutete so stark, dass man der Spur ohne Probleme folgen konnte. Das war nicht ihre Angelegenheit – und somit machte Sirany rasch wieder kehrt und lief ins Dorf zurück.
Zwei Tage später erwischte sie sich dabei, wie sie einen Korb mit Verbänden, Nähzeug und fieberstillenden Mitteln auf eines der Gräber stellte, in der stillen Hoffnung, er möge gefunden werden.
Sirany hätte nicht sagen können, warum sie dies tat. Sie tat es einfach und wie sich später herausstellte, hätte sie nichts Besseres tun können.
Kapitel 1
Es zieht ein Sturm auf.« Siranys Mutter Aileen warf einen besorgten Blick gen Himmel, während sie ihre einzige Tochter nach draußen begleitete. »Glaubst du, du schaffst es bis zum Müller?«
Auch Sirany prüfte das Wetter mit einem Blick, sah die dunklen, schneeverhangenen Wolken drohend über ihrem Kopf aufragen. Obwohl der Frühling bereits Einzug in das Land gehalten hatte, rang ihm der Winter noch diese eine Woche ab.
Kälte würgte Mensch und Tier, drang in jeden Knochen und ließ die bereits vorsichtig emporgesprossenen Blumen erfrieren. Eine dicke Schneeschicht lag auf dem kalten Erdboden, als hätte es den Frühling nie gegeben.
»Der Sturm ist nicht das Problem. Der Schnee ist übel«, erwiderte Sirany.
Rasch gab sie ihrer Mutter einen letzten Kuss auf die Wange und sprang von der Veranda hinab in den Schnee. Sie versank bis weit über die Knöchel, hörte das ihr so vertraute knirschende Geräusch zusammengedrückten Schnees.
Fröstelnd zog sie den Umhang um ihre mageren Schultern und ging vorwärts. Es war nicht weit bis zur Mühle des Müllers, doch der Weg war gefährlich. Unweigerlich musste man gleich zwei Wachtposten passieren und die überprüften jeden sehr genau, stets auf der Suche nach jungen, hübschen Frauen.
Sirany war dieses Spiel bereits so gewohnt, dass sie nicht weiter darüber nachdachte. Mit geübtem Griff zog sie sich die Kapuze weit über die Augen, krümmte sich und wirkte daraufhin wie eine alte, zermürbte Frau.
Um kein unnötiges Risiko einzugehen, schlug sie den Weg entlang des Flusses ein. Der führte am äußeren Rand des kleinen Dorfes vorüber. Normalerweise