Raell wich seinem Blick aus. Seufzend nickte er. »Sag deinen Männern, dass bei ihren Familien alles in Ordnung ist. Efnors Tochter kümmert sich nach dem Tod von Sabrin um ihre Tochter.« Er verstummte, als er Elendar erblassen sah.
Die Panik in den Augen des Assaren schnürte seinem Freund die Kehle zu. »Was ist mit Caina?«, flüsterte Elendar. Seine Lippen zitterten, Schweiß trat auf seine Stirn. »Was ist mit meiner Schwester?«
Raell atmete tief durch. »Sie ist tot.«
Die Worte hallten Elendar im Kopf herum, als er Raell ungläubig anstarrte. Sie gruben sich unauslöschlich in jede Zelle seines Gehirns, brannten sich dort hinein wie glühendes Eisen. Ein körperlicher, stechender Schmerz glitt wie zischendes Licht durch seinen gesamten Körper und traf sein Herz mit tödlicher Wucht. Unwillkürlich krümmte er sich zusammen und schlug die Hände vor die Brust.
»Elendar«, war alles, was Raell hervorbrachte. Er stützte seinen Freund in der bittersten Stunde seines Lebens. »Es tut mir so leid.«
Efnor musste gespürt haben, was geschehen war, vielleicht hatte er Elendar auch zusammenbrechen sehen. Er kam heran, blickte erst zu Raell, dann zu Elendar und verstand.
»Caina?«
Raell nickte. »Allen anderen geht es gut.«
Für Efnor waren das die erlösenden Worte, aber als er seinen Anführer anblickte, trieb es ihm fast die Tränen in die Augen. Für Elendar war heute Abend zum zweiten Mal in Folge eine Welt zusammengebrochen.
Erst Sirany, jetzt Caina, dachte Efnor bekümmert. Er beugte sich zu Elendar hinunter und tätschelte ihm ungeschickt den Rücken. Efnor war kein Mann der großen Worte. Er vertraute darauf, dass allein seine Anwesenheit genügen mochte.
Unvermittelt richtete sich Elendar auf, gleichzeitig vernahmen Raell und Efnor das Geräusch von Stahl, der aus einer Scheide glitt.
Beide traten instinktiv zurück und blickten den Assaren an, der mit blank gezogenem Schwert vor ihnen stand. Seine Augen waren so dunkel wie die Mitternacht und glänzten unnatürlich im Schein des weit entfernten Feuers. Seine Miene spiegelte keinerlei Regung wider, sein Blick war auf einen nur für ihn sichtbaren Punkt auf der Erde gerichtet. Die Muskeln spannten sich unter seiner Kleidung, wirkten bedrohlich und gefährlich.
Hätte Efnor Elendar nicht schon ewig gekannt, so hätte er sich vor ihm gefürchtet.
»Mach jetzt keinen Fehler, Elendar«, warnte ihn Raell, doch der Assar wirbelte bereits herum und durchquerte mit riesigen Schritten das Lager der Shari. Ohne zu zögern, hasteten die beiden anderen hinter ihm her.
Raell ging ein großes Risiko ein, sich so offen zu zeigen. Niemand durfte von seinen heimlichen Treffen mit den Assaren erfahren. Um seinen Freund aufzuhalten, wagte er es trotzdem. Zum Glück trug er eine weite Kapuze, die sein Gesicht verdeckte.
»Elendar, bleib stehen.« Er packte den Assaren und zog ihn zu sich herum. Als er in dessen eisiges Gesicht blickte, bekam er eine Gänsehaut. »Wo willst du denn hin?«
»Ich will sie sehen.«
Elendars Stimme klang seltsam fremd, dunkel und verzerrt.
»Das kannst du nicht. Sei vernünftig, rein theoretisch weißt du gar nichts von ihrem Tod. Mein Vater glaubt weiterhin, er könne dich belügen.«
Seine Worte prallten an Elendar ab. Vor Kummer nahm der Assar seine Umwelt kaum noch wahr, starrte blicklos vor sich hin.
Schließlich strecke Efnor vorsichtig seine Hand aus, packte Elendars Schwert und zog es aus seiner Umklammerung. Dieser ließ es widerstandslos geschehen. Er wehrte sich auch nicht, als die beiden ihn zum Lager zurückbrachten. Dort angekommen, zwang Raell ihn, sich auf einen Stein vor das Feuer zu setzen, legte ihm eine Decke um und setzte sich neben ihn.
Elendar schloss die Augen und sah für einen winzigen Moment das Bild seiner Schwester aufblitzen. Sie lächelte – wie meistens. Ihre langen Haare flossen ihr in sanften Wellen über die schlanken Schultern, während ihre Augen vor Freude glänzten.
Dann verschwand das Bild und Elendar war wieder allein.
Er brauchte fünf Minuten, um sich zu sammeln. Fünf Minuten, in denen er seine Kraft sammelte und sich innerlich straffte. Sein Volk brauchte ihn jetzt und er musste stark sein. Er würde später zusammenbrechen. Nicht jetzt.
Mit einem Ruck stand er auf und sah einen Mann nach dem anderen streng an. »Wir brechen auf. Sofort. Packt eure Sachen. Ich will in einer Woche im Norden sein. Je eher wir mit den Rebellen fertig sind, desto schneller könnt ihr zu euren Familien.«
Kurz bückte Elendar sich, hob sein Schwert von der Erde auf und steckte es zurück in die Scheide. Dann ging er zu seinem Pony.
»Sag ihm zu einem späteren Zeitpunkt, dass Caina bereits beerdigt wurde. Sie ist vor drei Tagen im Morgengrauen von uns gegangen. Es wurde angemessen für sie gebetet«, sagte Raell leise zu Efnor, als Elendar ihn nicht mehr hören konnte.
»Er wird wissen wollen, wie sie gestorben ist.«
Raells Augen verdunkelten sich. »Sag ihm, sie sei an der Grippe gestorben.«
»Ist sie das?«
»Nein. Aber die Wahrheit sollte er nie erfahren. Sie würde ihn umbringen.«
Kapitel 10
Elendars Reitergruppe erreichte sieben Tage später Attenge, die nördlichste Region von Farreyn. Hier hatte sich eine Rebellengruppe formiert, die sich weiterhin energisch zur Wehr setzte.
Elendar und seine Männer gingen mit einer Brutalität zu Werke, die für die Assaren völlig untypisch war und ihnen weitere schauerliche Mythen einbrachte.
Sie fuhren über die erschrockene Rebellenschar wie eine wütende, alles verschlingende Feuersbrunst und hinterließen nichts als Asche und Rauch. Das Ganze dauerte nicht länger als zwei Wochen. Dann war von dem Aufstand nichts mehr übrig als ein kurzer Bericht in den Geschichtsbüchern.
Kaum waren die Rebellen als vernichtet erklärt, brachen die Assaren auf und ritten wie die Teufel gen Westen, zurück in ihre Heimat. Sie galoppierten durch die Wälder Farreyns, ohne die Schönheit dieser Welt zu sehen, passierten Koruns Grenze und preschten über seine endlosen Weiden. Schließlich wurde der Weg steiniger, steiler und sie erreichten das Hochland. Assanien. Ihre Heimat. Einige von ihnen hatten sie seit dreizehn langen Jahren nicht gesehen.
Nach dem Überfall auf das assarische Dorf vor vielen Jahren waren die meisten Frauen und Kinder getötet oder verschleppt worden. Einige hatten jedoch fliehen können. Sie hatten sich in den Bergen versteckt und auf jene Männer gewartet, die auf dem Schlachtfeld kämpften. Es waren so schrecklich wenige gewesen, die zurückkehrten. So wenige.
Als die überlebenden Krieger sahen, was aus ihren Familien geworden war, weinten sie bitterlich. Anschließend ergaben sie sich – um der Frauen und Kinder willen, die in Gefangenschaft geraten waren. Jene, die hatten fliehen können, versteckten sich in den Bergen, tauchten unter, um nicht ebenfalls zu Geiseln zu werden. Alexej wusste natürlich darum. Hier aber zeigte er sich großzügig. Er erlaubte ihnen zu leben, solange sie sich nicht bemerkbar machten.
Bei den Kriegern war er weniger barmherzig. Die meisten büßten die Kapitulation mit ihrem Leben ein. Den Rest der Krieger zwang Alexej unter seine Herrschaft. Die Bedingung: unbedingter Gehorsam. Sonst starben die Geiseln.
Somit wurde Elendars kleine Reiterschar eine von vielen, die in Alexejs Auftrag Morde ausführte. Sie alle waren an jene verhasste Bedingung gebunden. Es gab kaum jemanden, der nicht einen gefangenen Verwandten hatte.
Die Assaren durften diese Verwandten jedes Jahr einmal sehen. Bei den