Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich nur langsam in diese Richtung. Im Falle eines Sharis hätte sie ohnehin keinerlei Waffen mehr gehabt, um sich zu wehren.
Stattdessen sah sie Elendar, der müde zu ihr den Hang hinaufkam. Blut klebte auf seiner Haut, in seinen Haaren. Die Klinge seines Schwertes glänzte nicht silbern, sondern rot.
»Mir scheint, du hattest einen guten Lehrer«, sagte er müde.
Sirany löste sich endlich aus ihrer Starre und rannte zu ihm. Er fing sie erleichtert auf und brach zusammen mit ihr auf dem kleinen Hügel in die Knie.
Voller Erleichterung, dass sie noch lebte, legte er den Kopf in den Nacken und blickte zu den schimmernden Sternen hinauf. Inbrünstig dankte er demjenigen, der sie in diesen Sekunden vor dem Tod bewahrt hatte.
Elendar vergrub seine Hand in Siranys dichten Haaren und streichelte ihren Rücken mit der anderen. Sanft küsste er ihre Stirn. Sie zitterte wie Espenlaub und hielt ihn umklammert, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, tropften auf seine nackte Haut und versickerten dort.
Schließlich drückte Elendar sie von sich fort. Er umfasste ihr schmales Gesicht mit seinen Händen und wischte mit den Daumen die Tränen weg. Dann blickte er ihr tief in die Augen.
»Hör mir jetzt gut zu. Die Gefahr ist nicht vorüber. Bleibt im Wald, versteckt euch so tief in den Wäldern, wie ihr nur könnt. Wenn das Heer hier durchmarschiert und die Toten entdeckt, wird man euch dafür zur Verantwortung ziehen. Um die Leichen zu verstecken, bleibt uns keine Zeit, deshalb können wir nur darauf vertrauen, dass der Heerführer sich nicht weiter mit der Sache beschäftigt.«
Elendars Herz war schwer, als er aufstand und Sirany mit sich zog.
»Pass auf dich auf.«
»Wohin gehst du?«
»Ich muss zurück zum Heer. Wenn ich nicht bald wieder auftauche, wird mein Verschwinden auffallen. Man darf mich nicht mit eurer Warnung in Verbindung bringen, hörst du? Sonst ist mein Volk verloren. Sag das auch deinen Leuten.«
Er blickte Sirany mahnend an, bis sie nickte. Elendar hätte die junge Frau gern geküsst und ermahnte sich selbst. Er war sich nicht sicher, ob er sie sonst jemals wieder loslassen konnte.
Deshalb machte er sich rasch von ihr frei und wollte den Hügel hinabeilen, doch sie hielt ihn mit einer Hand auf.
»Warte.«
Sie strich ihm einige Haarsträhnen zur Seite und betrachtete sein blutiges, zerschundenes Gesicht. Sanft fuhr sie mit dem Zeigefinger über seine Wange und berührte seine Lippen. Er umfasste ihre Hand, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leidenschaftlich.
Es war nicht so, dass zwei Menschen einander einfach küssten.
Dieser Kuss bedeutete viel mehr, war es ein Kuss zwischen einem Assaren und einer Farreyn. Ein Kuss, der zum ersten Mal diese beiden Völker miteinander verband und zu einer Einheit zusammenschloss.
Es war ein inniger Kuss von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die bisher einander mit Missachtung gegenübergestanden hatten und sich plötzlich auf einer gemeinsamen Seite wiederfanden.
Es war ein leidenschaftlicher Kuss voller Hoffnung und Liebe.
Als Sirany den Wald betrat, herrschte um sie herum Stille. Selbst die Bäume schienen den Atem angehalten zu haben und die Nachttiere waren längst vom Lärm der Menschen vertrieben worden.
Sirany traf unweit des Waldrandes auf ihre Mutter. Neben ihr stand die junge Frau mit den drei Kindern und starrte sie an. Natürlich hatten beide die Szene auf dem Hügel mit angesehen.
Aileen sagte nichts, sondern hob nur das kleine Mädchen wieder auf ihre Hüfte und trat tiefer in den Wald. Die anderen Frauen folgten.
Für Sirany bedeutete jeder Schritt, sich weiter von Elendar zu entfernen. Doch es musste sein. Er musste zurückkehren und sie musste fliehen. Keiner von beiden konnte daran etwas ändern.
»Hat er alle Reiter vernichtet?«, fragte Aileen nach langer Zeit in die Nacht hinein.
Ihre Stimme klang fast ein bisschen irre, übergeschnappt. Sie zitterte leicht.
»Bis auf die drei, die ich erledigt habe, alle.«
Sirany sagte es in einem leichten Ton. Innerlich drehte sich ihr der Magen um. Sie hatte Menschen getötet. Es waren zwar ihre Feinde, doch hatte niemand einen solchen Tod wirklich verdient.
Ihre Mutter warf ihr einen scharfen Blick zu. »Hat er dir das Schießen beigebracht?«
»Ja.«
»Dann hat er auch diese drei auf dem Gewissen.«
Sirany wollte erst protestieren, denn ihre Mutter klang, als wolle sie Elendar Vorwürfe machen, aber Aileen sprach bereits weiter. »Und er hat damit unser aller Leben gerettet. Dafür sollten wir dankbar sein.«
Sie tappten fast zwanzig Minuten halb blind durch den Wald, bis sie endlich auf eine Gruppe anderer Dorfbewohner trafen. Gemeinsam gingen sie weiter, tiefer in den dunklen Bauch des Waldes.
Sirany wurde in dieser Zeit fast verrückt vor Angst. Sie bangte um die Menschen, die hierher geflohen waren und sich nun verstecken mussten. Sie hatte Angst vor der nahenden Reiterschar und fürchtete um ihr Dorf und ihr Vieh. Vor allem sorgte sie sich um Elendar, der zu den Leuten zurückkehren musste, die sie alle hatten umbringen wollen.
Irgendwann fand Sirany in dem undurchdringlichen Dickicht ihren Vater. Erleichtert umarmten sie einander. Sarn gab erst seiner Tochter einen kurzen Kuss auf die Stirn, danach küsste er innig seine Frau.
Die Nacht zog sich dahin, bis der Morgen graute und die ersten Vögel vorsichtig ihr Lied anstimmten. Schatten wurden zu Ästen und Dunkelheit zu Licht. Das Leben kehrte in den Wald zurück.
Mit jedem Baum, den Sirany im Licht besser erkennen konnte, wurde sie zugleich unruhiger. Sie spürte das Herannahen des Heeres und wusste, dass ihr Leben weiterhin in Gefahr war. Deshalb trieb sie die kleine Schar zu noch größerer Eile an, bis alle vor Erschöpfung zitterten.
Als der Tag schließlich in seiner vollen Blüte erwacht war, suchten sich die Flüchtenden gute Verstecke im Dickicht und warteten auf das Kommende.
Sekunden verstrichen und wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Das ewige Warten lastete schwer auf den Nerven der Menschen, an Schlaf war in ihrer Angst ohnehin nicht zu denken.
Plötzlich richtete sich Sirany erschrocken auf und streckte den Kopf in den Wind.
»Rauch«, flüsterte sie entsetzt. Alle anderen schnupperten nun ebenfalls und rochen Qualm, brennendes Holz, tosende Flammen. »Sie fackeln den Wald ab.«
Die Erkenntnis brachte die Menschen wieder auf die Beine. Zwar war der Geruch bisher nur schwach, doch von Sekunde zu Sekunde verdichtete er sich mehr und begann bereits in ihrer Lunge zu brennen. Dann sah Sirany die ersten Flammen über den Baumwipfeln aufleuchten.
»Der Wind treibt das Feuer direkt auf uns zu.« Sarn fuhr sich nervös durch das Haar. »Wir müssen hier weg.«
Nach diesen Worten folgte eine wilde Flucht quer durch den Wald. Ein Wettrennen begann, in dem diesmal nicht die Menschen vor ihresgleichen flüchteten, sondern vor einer Macht, der sie noch weitaus hilfloser ausgeliefert waren.
Das Prasseln der Flammen grollte nun in den Ohren der Dorfbewohner, übertönte jedes weitere Geräusch und ließ die ganze Welt um sie herum in einem Meer aus Angst und Panik verschwinden. Hitze lechzte nach ihren Kleidern; Rauch brannte in ihren Augen, verstopfte ihre Münder und lähmte ihre Lungen.
Verzweifelt versuchten sie dem Feuer aus dem Weg zu gehen, doch es ließ keinen Platz zur Flucht. Unbarmherzig trieb es sie vor sich her, bestimmte jede Richtung.
Nach