Das rettete ihm sein Leben.
Jetzt stand dieser Junge vor ihm. Die Jahre hatten ihn zu einem kräftigen jungen Mann heranreifen lassen und sein Geist war ungebrochen. Jede seiner Bewegungen erzählte von einer unbändigen Wildheit, die selbst durch jahrelange Knechtschaft nie zerstört werden konnte.
Sosehr der König dem Jungen auch zugesetzt hatte, hatte er ihn nicht zähmen können. Mittlerweile begnügte er sich mit dem Wissen, ihm wenigstens die Krallen gestutzt zu haben, und benutzte ihn als sein Werkzeug im Kampf.
»Ihr habt eure Arbeit gut gemacht«, sagte Alexej nun.
Er blickte auf Elendar herab, der vor der untersten Stufe des Königsthrons stehen geblieben war. Elendar machte sich nicht die Mühe, auf die Worte des Königs zu reagieren, sondern wartete lediglich ab.
Innerlich kochte Alexej vor Wut. Er hasste es, wenn er nicht mit dem ihm gebührenden Respekt begrüßt wurde. Elendar dafür zu bestrafen war jedoch müßig. Beim nächsten Mal würde es wieder dasselbe sein wie zuvor.
Alexej betrachtete den Krieger vor sich. Er war mager geworden, der Winter hatte ihm zugesetzt. Auch hielt er sich nicht mehr ganz so gerade wie bisher. Etwas musste vorgefallen sein. Etwas, was ihn bis in seine Grundfesten erschüttert hatte.
War es der Verlust seiner Männer gewesen? Alexej hatte Elendar absichtlich in eine Falle laufen lassen. Zu seiner Überraschung hatten die meisten Assaren seines Trupps überlebt. Oder war es etwas anderes?
Augenblicklich beschloss der König, den Grund für die Veränderung so schnell wie möglich herauszufinden.
»Ich habe eine weitere Aufgabe für euch«, sprach Alexej weiter.
Er zwang sich, sich wieder auf das eigentliche Thema zu konzentrieren. Noch immer rief er durch seine Worte keine Reaktion bei Elendar hervor.
»Ich möchte, dass die Assaren den Vorstoß meiner Truppen im Norden unterstützen. Rebellen überfallen dort ständig meine Versorgungstrupps. Ihr müsst sie schützen.«
»Nein.«
Elendar blickte auf. Hass loderte wie eine dunkle Flamme in seinen Augen. Sein Blick durchbohrte Alexej regelrecht.
»Nein? Mein lieber Elendar, mir scheint, du hast den Ernst der Lage weiterhin nicht begriffen.« Der König lächelte zuckersüß. »Du bist nicht in der Position, dich zu weigern.«
»Meine Männer wollen ihre Familien sehen. Sie kämpfen nicht mehr. Erst wollen sie Gewissheit darüber haben, dass ihre Liebsten am Leben sind.«
»Ihr habt die Familien vor zwei Jahren gesehen. Das muss reichen.«
Alexej war wütend aufgesprungen und einige der Stufen hinuntergesprungen. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass man einem Assaren niemals zu nahe kommen sollte.
Elendar wurde zu beiden Seiten von zwei schwer bewaffneten Kriegern flankiert und der König selbst war auch kein Schwächling, aber man konnte nie die Handlung eines Assaren voraussagen.
»Ich meine damit nicht unsere Angehörigen in deinem Schloss. Wir wollen in unser Land zurückkehren. Auch dort haben wir Familie.«
Elendar bat nicht, das spürte Alexej. Er stellte ihm lediglich seine Bedingungen vor. In den dreizehn Jahren seiner Gefangenschaft hatte Elendar nicht einmal um etwas gebeten. Er würde es auch jetzt nicht tun.
Der König überlegte. Er brauchte die Assaren im Norden, doch war ihm auch klar, dass er sie nicht ewig vertrösten konnte. Schließlich nickte er.
»Geht in den Norden, erledigt dort die Rebellen. Dann könnt ihr ohne Umwege zurück in euer Land kehren. Am zehnten des neunten Monats will ich euch wieder bei meinen südlichen Truppen sehen. Ein Teil von ihnen wird in den Norden aufbrechen, um dort die Eroberung fortzusetzen. Schließt euch ihnen an.«
Seine Augen wurden schmal, als er Elendar mahnend betrachtete.
»Wagt es nicht, zu spät zu kommen. Sonst würde es deine Schwester sehr bereuen.«
Elendar war diese Drohung so gewohnt, dass er sie ignorierte. Stattdessen nickte er lediglich, wandte sich grußlos ab und verließ den Saal.
Als die Tür hinter seinem Rücken ins Schloss gefallen war, fragte sich der König, ob er richtig gehandelt hatte. Einem Assaren sollte man niemals zu viel Spielraum geben. Er könnte auf falsche Gedanken kommen. Doch jetzt war es ohnehin zu spät, seine Entscheidung zurückzunehmen.
Elendar fiel auf wie ein bunter Hund, als er durch die Reihen sharischer Zelte hinüber zu seinen Männern ging. Die Soldaten hoben ihre Köpfe, sobald sie ihn bemerkten, und ihre Blicke folgten ihm.
Der Anblick eines Assaren erregte immer allgemeine Aufmerksamkeit. Es war schließlich selten, einen jener Männer zu Gesicht zu bekommen, um die sich so viele Geschichten rankten. Elendar war noch dazu ein ganz besonderer Assar. Der Assar, der beinahe den sharischen König getötet hätte. Ihm zu begegnen war beinahe ein Sakrileg.
Deshalb war Elendar froh, als er bei seinen Männern ankam. Er war das Starren und Wispern gewohnt und empfand es trotzdem als ausgesprochen unangenehm. Mit einer einzigen Kopfbewegung befahl er seine Männer zu sich. Dann erzählte er ihnen kurz und knapp vom Gespräch mit dem König. Als er zum Ende kam, begannen sie zu murren und Elendar musste sie erst einmal beruhigen.
»Wir übernachten heute hier. Weiterzuziehen wäre bei dem Wetter zu gefährlich und die Pferde sind erschöpft. Lasst die Waffen stets griffbereit und fangt um Himmels willen keinen Streit an.«
Die Männer taten wie geheißen, versorgten ihre Ponys und bereiteten ihr Nachtlager vor. Schließlich saßen sie um ein prasselndes Feuer herum und schwiegen sich an. Sie wussten, dass keiner von ihnen in dieser Nacht schlafen würde. Nicht, solange sie von ihren Feinden umzingelt waren.
Die Nacht zog sich dahin. In dem riesigen Armeelager kehrte schließlich Ruhe ein, unterbrochen von dem lauter werdenden Schnarchen zahlreicher Männer. Wie stille Wächter saßen die Assaren da und warteten auf den kommenden Morgen.
Plötzlich spürte Elendar mehr eine Bewegung, als dass er sie sehen konnte. Jemand ging zwischen den Pferden der Assaren umher.
Leise stand Elendar auf und hielt direkt auf den Schatten zu, den er neben einem braunen Hengst entdeckt hatte. Er wusste sehr genau, wen er gleich treffen würde und freute sich darüber.
»Ich habe dich erwartet, mein Freund«, begrüßte er den Mann, der sich abwartend auf den Widerrist eines Hengstes gelehnt hatte.
Als Elendar ihm seine Hand entgegenstreckte, ergriff der Fremde sie und schlug ein.
»Und ich habe auf dich gewartet, mein Freund«, erwiderte er.
Erleichtert umarmten sie einander, eine Geste, die beide in Todesgefahr bringen konnte. Dennoch gingen sie das Risiko ein. Vor Elendar stand niemand Geringeres als Raell Karamu, Sohn des sharischen Gottkönigs persönlich.
»Du warst bei meinem Vater. Ich hoffe, er hat dir nicht zu sehr zugesetzt.«
»Er war höflich wie immer.«
Elendar wusste, dass seine Männer hinter ihm verzweifelt versuchten, das Gespräch zu belauschen. Die kurzen Treffen mit dem Sohn des Königs waren für sie von höchster Bedeutung, um Neuigkeiten über ihre Familien zu erfahren. Zuerst musste er jedoch wichtigere Dinge besprechen.
»Dein Brief kam zu spät, Raell. Er erreichte uns erst, nachdem wir schon im Hinterhalt gefangen waren. Trotzdem danke, dass du uns warnen wolltest.«
»Es war einen Versuch wert. Tut mir leid um deine Männer. Mein Vater möchte dich dringender denn je loswerden. Dich öffentlich hinzurichten lässt sein Stolz nicht zu. Wenn du in einem einsamen Winkel seines Reiches von der Bildfläche verschwindest, würde ihm das sehr gefallen. Er steckt hinter dem Hinterhalt, nicht die angeblichen Rebellen.