»Nie mehr! Großes Ehrenwort. Ich war dumm, Flo.«
»Frau Plessenstein?« fragte Adrian. »Der Junge muß jetzt nach oben, wir sollten die Operation nicht länger aufschieben.«
Gabriele nickte, gab Florian einen Kuß und sagte: »Ich bleibe hier, bis alles vorbei ist. Und wenn du aufwachst, dann sitze ich an deinem Bett.«
»Und du bist nicht böse?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Ich werde jetzt noch zu Max gehen und mit ihm reden. Wir sehen uns später, mein Schatz!«
Noch einmal küßte sie ihn, dann schob Schwester Monika das Bett aus der Kabine. Als Gabriele den Flur betrat, traf sie auf Konrad Eder, der sich leise mit Adrian Winter unterhielt. Die beiden Männer sahen auf, als sie zu ihnen trat.
»Guten Abend, Herr Eder«, sagte sie, »ich habe Sie eben gar nicht richtig gesehen.«
»Verständlich«, meinte er ruhig, »wenn man mitten in der Nacht eine solche Nachricht bekommt.«
»Kann ich mit Max reden?« fragte sie. »Vielleicht kann er mir diese ganze Geschichte etwas genauer erklären. Es gibt da noch einiges, das ich nicht verstehe.«
»Ich glaube, ich kann Ihnen weiterhelfen«, sagte Konrad. »Ich habe ausführlich mit dem Jungen gesprochen.« Er berichtete ihr von seinem Gespräch, und sie hörte ihm gebannt zu. Als Konrad wiedergab, was Max über Rainer Wollhausens Äußerungen gegenüber Florian gesagt hatte, wurde sie blaß, aber ihre Augen sprühten wahre Blitze vor Zorn und Empörung.
»Dieser Mistkerl«, sagte sie schließlich. »Ich hatte mir das schon so ungefähr zusammengereimt. Florians Hoden stecken noch in der Bauchhöhle. Als er noch ein Baby war, haben wir es mit einer Hormontherapie versucht, aber sie hat nicht angeschlagen. Ich habe ihm erklärt, daß ich mit einer Operation gern noch warten möchte, solange noch Hoffnung besteht, daß sie von selbst an die richtige Stelle wandern. Einer der Hoden bewegt sich gelegentlich und war auch schon einige Male draußen – deshalb dachte ich, ich kann Flo die Operation ersparen. Er ist so zart und war früher auch öfter mal krank… Aber mir war nicht klar, daß er jetzt in einem Alter ist, wo fehlende Hoden schon ein Problem darstellen können.«
Konrad nickte. »Ja, es scheint so zu sein, daß ihn auch schon Klassenkameraden gehänselt haben. Aber die Bemerkungen Ihres Freundes müssen ihn ganz besonders tief getroffen haben.«
»Er ist nicht mehr mein Freund«, stellte Gabriele energisch fest. »Niemand, der meinen Sohn so behandelt, ist mein Freund.«
Konrad nahm diese Aussage schweigend zur Kenntnis. Nur Adrian ahnte, was sie für ihn bedeutete.
»Trotzdem müssen wir darüber noch einmal reden, Frau Plessenstein«, sagte Konrad. »Man weiß nämlich heute, daß es nicht gut ist, wenn die Hoden zu lange in der Bauchhöhle steckenbleiben. Dort ist es zu warm, das kann auf Dauer zu Unfruchtbarkeit führen.«
Er sah, daß sie erschrak, und lächelte beruhigend. »Kein Grund zur Aufregung. Ich denke nur, daß eine Operation vielleicht doch die beste Lösung wäre. Aber das muß kein Thema sein, das Sie heute nacht beschäftigt. Sie sollten sich nur grundsätzlich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es für Ihren Sohn besser wäre, wenn er operiert wird. Gerade auch nach dem, was jetzt passiert ist. Für seine Psyche wäre es sicherlich eine große Erleichterung, wenn seine Hoden endlich dort säßen, wo sie bei allen anderen auch sitzen.«
»Danke, daß Sie so offen mit mir gesprochen haben«, erwiderte sie leise. »Sie wissen ja, daß man als Mutter oft blind ist, wenn es um das eigene Kind geht – gerade auch als Ärztin. Ich wollte ihm die Operation ersparen, weil ich mir eingebildet habe, sie stellt eine zu große Belastung für ihn dar.«
Adrian Winter schaltete sich ein. »Das ist normalerweise ja auch richtig, Frau Plessenstein«, sagte er ruhig. »Aber Herr Eder hat recht. Denken Sie darüber nach, wenn diese ganze Geschichte überstanden ist.«
Einen Augenblick schwiegen sie alle drei. Dann sagte Gabriele: »Ich danke Ihnen beiden sehr. Sie haben mir mehr geholfen, als Sie sich vielleicht vorstellen können.«
*
Max war vor Erschöpfung eingeschlafen. Er träumte wilde Geschichten, die alle in pechschwarzer Nacht spielten. Er war mit Flo auf der Flucht vor riesigen Hunden und feuerspeienden Drachen, doch immer gelang es ihnen in letzter Sekunde, sich zu retten. Aber dann verfing er sich in einem wirren Dornengestrüpp, und als er um Hilfe rief, mußte er feststellen, daß Flo ebenfalls feststeckte. Nun konnten sie sich beide nicht mehr bewegen, und der Drachen kam näher und näher mit seinem heißen Atem, den er schon spüren konnte…
»Mäxchen, wach auf!« sagte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam und ihn sofort tröstete. »Du hast schlecht geträumt, wach ganz schnell auf.«
Er schlug die Augen auf und blickte in das besorgte Gesicht seiner Mutter. Und direkt neben ihr stand sein Vater und sah genauso besorgt aus. Er war so sehr erleichtert, daß er am liebsten sofort wieder geweint hätte, aber er war nicht sicher, ob seine Eltern das richtig verstanden hätten. Sonst weinte er nämlich nie – jedenfalls nicht, wenn sie es sehen konnten.
»Maximilian Sennelaub«, sagte nun sein Vater. »Was machst du nur für Geschichten mitten in der Nacht!« Wie er das sagte, klang es nicht einmal besonders böse, sondern eher erleichtert, und das beruhigte Max sehr.
»Seid ihr sauer?« fragte er schläfrig. »Bitte nicht, ich kann es euch genau erklären.«
»Davon sind wir überzeugt«, erwiderte sein Vater. »Wir fahren jetzt nach Hause, da schläfst du dich richtig aus – und morgen erklärst du uns alles ganz genau. Aber nicht mehr heute nacht. Sieh mal, wer hier ist!«
»Hallo, Max!« sagte Gabriele leise. »Danke, daß du Flo nicht allein gelassen hast. Ich glaube, das war für ihn sehr wichtig.«
»Er ist ja auch mein allerbester Freund«, murmelte Max. »Wo ist er jetzt?«
»Er wird operiert, sein Bein ist doch gebrochen. Aber ich glaube, es wird ihm bald wieder gut gehen. Ich bleibe noch hier in der Klinik, bis die Operation beendet ist. Und dann warte ich noch, damit er nicht allein ist, wenn er aufwacht.«
»Und wir fahren jetzt«, sagte Frau Sennelaub. »Wir kommen morgen wieder, Frau Plessenstein, um zu hören, wie es Flo geht. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen. Und nochmals vielen Dank, Max.«
Max nickte nur. »Aber laufen kann ich nicht mehr«, sagte er und rollte sich auf die Seite. Im nächsten Moment war er schon wieder eingeschlafen. Sein Vater hob ihn hoch und trug ihn aus der Notaufnahme.
»Sollen wir noch einmal wiederkommen mit ihm, Herr Dr. Winter?« fragte er. »Weil er doch einen Schock hatte.«
Adrian wandte sich an Konrad. »Was meinst du dazu, Konrad?«
»Ich glaube, wenn er Ihnen morgen alles in Ruhe erzählen kann und wenn Sie nicht allzu sehr mit ihm schimpfen, dann wird er wieder völlig der alte sein«, antwortete der junge Kinderarzt lächelnd. »Er hatte einen Schock, weil er gedacht hat, sein Freund sei vielleicht sehr schwer verletzt oder sogar tot – aber seit er weiß, daß das nicht der Fall ist, geht es ihm schon bedeutend besser. Sie sollten ihn aber vielleicht zwei oder drei Tage zu Hause behalten und viel mit ihm reden. So wird er am besten verarbeiten können, was passiert ist.«
»Wenn Sie allerdings den Eindruck haben, daß etwas nicht in Ordnung ist«, fügte Adrian hinzu, »dann kommen Sie lieber noch einmal wieder.«
Max’ Eltern bedankten sich und verließen die Notaufnahme.
»Und Sie, Frau Plessenstein?« fragte Konrad. »Darf ich Ihnen einen Kaffee auf meiner Station anbieten, um Ihnen die Wartezeit zu verkürzen?«
Zu seiner Überraschung nickte sie und sagte: »Gern, vielen Dank. Auf Wiedersehen, Dr. Winter. Danke für die gute Betreuung meines Sohnes – und daß Sie mich sofort angerufen haben.«
»Nichts zu danken«, erwiderte