Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman. Nina Kayser-Darius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nina Kayser-Darius
Издательство: Bookwire
Серия: Kurfürstenklinik Paket
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740970673
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nicht blind, Rainer. Du kannst mit ihm nichts anfangen, und du machst dir auch sonst nichts aus Kindern, das weiß ich längst. Aber ich habe einen Sohn, und ich werde ihn nicht ständig wegorganisieren, nur weil du lieber mit mir allein bist.«

      Etwas an ihrem Tonfall ärgerte ihn, und so sagte er: »Ach, er ist dir also wichtiger als ich?«

      »Was soll das denn heißen? Er ist mein Sohn! Ich möchte erst gar nicht in die Verlegenheit kommen, entscheiden zu müssen, wer mir wichtiger ist. Er ist mein Sohn, ich will mir ihm zusammenleben.«

      »Und wenn ich nicht mit ihm zusammenleben will?« fragte er, obwohl er wußte, daß er diese Frage besser unterdrückt hätte.

      »Dann tut es mir leid«, antwortete sie. »Meine Haltung wird sich nicht ändern. Ich würde ihn niemals in ein Internat geben, wie du dir das so schön ausgedacht hast. Niemals!«

      Allmählich wurde er richtig wütend. »Da würden sie ihn auch ganz schön aufziehen!« platzte er heraus.

      Mit einem Ruck richtete sie sich auf. »Was soll das heißen?« fragte sie scharf.

      »Ach, komm schon!« sagte er. »Du hättest mir ruhig sagen können, was mit ihm los ist.«

      »Was ist mit ihm los? Wovon redest du?«

      »Daß er keine Eier hat!« antwortete er brutal.

      Sie wurde blaß, aber auf einmal war sie sehr ruhig. »Mach, daß du aus dieser Wohnung kommst«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Und laß dich hier nie wieder blicken, hörst du! Nie wieder!«

      Er starrte sie an, dann fing er an zu lachen. »Ach, komm schon, Schatz, wir wollen uns doch diesen Abend nicht verderben. Ich habe ihn nackt gesehen, und es wäre mir vielleicht noch nicht einmal aufgefallen, wenn er nicht so verzweifelt versucht hätte, es zu verbergen.«

      »Was ihm offenbar nicht gelungen ist«, stellte sie mit kalter Stimme fest. »Wahrscheinlich hast du hartnäckig versucht herauszufinden, was er verbergen wollte.«

      »Was soll denn das jetzt wieder heißen?« fragte er. »Es ist schließlich das Natürlichste von der Welt, daß Menschen, die sich nahestehen, einander auch einmal nackt sehen…«

      »Sicher ist es das«, erwiderte sie. »Wenn beide Seiten das so sehen. Flo hat aber zu diesem Thema bestimmt eine andere Meinung als du. Außerdem steht ihr beiden euch nicht nahe. Und jetzt verschwinde – und zwar ein bißchen plötzlich.«

      Er begriff erst jetzt, daß sie es ernst meinte, und wurde wieder wütend. »Bitte schön!« sagte er. »Es ist zwar überhaupt nichts passiert, aber offenbar hast du einen Vorwand gebraucht, um dich mit mir zu streiten. Ich gehe, aber eines sage ich dir: Wenn ich jetzt diese Wohnung verlasse, siehst du mich nicht wieder.« Er sah sie an in der Erwartung, diese Drohung werde sie zum Einlenken bewegen.

      Doch Gabriele stand auf und verließ das Zimmer. In der Tür wandte sie sich noch einmal um. »Verschwinde!« wiederholte sie mit Nachdruck. »Je schneller, desto besser!«

      *

      »Mir ist kalt«, sagte Florian. Er sehnte sich nach seiner Mama, die ihm einen Gutenachtkuß geben sollte, und nach seinem warmen Bett. Außerdem zweifelte er mittlerweile heftig daran, daß Weglaufen wirklich so eine gute Idee gewesen war.

      Auch Max war ruhiger und nachdenklicher geworden. Tagsüber war das alles noch lustig und aufregend gewesen, daß sie weggelaufen waren und die Schule geschwänzt hatten. Aber jetzt war es dunkel, und auch wenn er nicht besonders ängstlich war, so ertappte er sich doch dabei, daß er sich immer wieder umsah, ob ihnen auch wirklich niemand folgte, der sie überfallen wollte. Alle Grusel- und Abenteuergeschichten fielen ihm wieder ein, die er jemals gelesen oder im Fernsehen gesehen hatte.

      »Wir müssen eine verlassene Scheune finden, in der wir schlafen können«, sagte er und versuchte, seine Stimme fest und sicher klingen zu lassen. »Da ist es warm, und keiner kann uns etwas tun.«

      »Aber wie sollen wir denn so eine Scheune finden?« fragte Florian verzagt. »Es ist doch ganz dunkel, und wir können nicht mehr gut sehen.«

      »Scheunen gibt es hier massenhaft!« behauptete Max. »Hier gibt es Bauernhöfe, also gibt es auch Scheunen. Und so dunkel, daß man nichts sehen kann, ist es nun wirklich nicht.«

      Florian widersprach ihm nicht, aber sein Mut sank noch weiter. Sie waren ganz allein, niemand war da, um ihnen zu helfen. Am liebsten hätte er geweint, aber das ging natürlich nicht, denn dann hätte er sein Gesicht verloren.

      »Aber Bauern haben immer Hunde«, wandte er ein. »Und die bewachen bestimmt die Scheunen, dann kommen wir da gar nicht ’rein.«

      »Die bewachen den Hof, aber nicht die Scheune«, behauptete Max, der keine Ahnung hatte, ob das stimmte, was er sagte. Aber er wollte einfach keine Angst haben, und deshalb fing er jetzt auch noch fröhlich an zu pfeifen.

      »Sei doch still!« sagte Florian ängstlich. »Sonst wissen die Bauern doch gleich, daß wir kommen, und passen auf, daß wir nicht in ihre Scheunen gehen.«

      Also verstummte Max, denn die Richtigkeit von Flos Argumenten war nicht von der Hand zu weisen. Schweigend marschierten sie weiter, und wenn ihnen jemand entgegenkam und sie erstaunt ansah, dann redeten und lachten sie eifrig, damit nur niemand auf die Idee kam, sie zu fragen, was sie so spät allein noch auf der Straße zu suchen hätten.

      Es waren aber sowieso kaum Leute unterwegs, und endlich rief Max mit unterdrücktem Triumph in der Stimme: »Da vorn, guck doch mal! Die Scheune ist ideal! Flo, dort werden wir schlafen.«

      »Da ist aber eine Mauer«, wagte Florian einzuwenden.

      »Da klettern wir drüber, die ist doch nicht hoch.«

      Besonders hoch war sie wirklich nicht, das stimmte. »Na gut«, sagte Florian. »Ich bin nämlich ziemlich müde. Und Hunger habe ich auch.«

      »Wenn wir in der Scheune sind, essen wir erstmal, und dann schlafen wir wie die Murmeltiere«, behauptete Max. »Los, über die Mauer, dann über die Wiese – und hinein in die Scheune.«

      Florian wurde bewußt, daß er in der letzten halben Stunde sicherlich keine große Hilfe für Max gewesen war. Dabei war dieser aus lauter Freundschaft zu ihm weggelaufen – er hatte ja eigentlich gar keinen Grund dazu gehabt. Jedenfalls beschloß Florian jetzt, als erster über die Mauer zu klettern.

      Sie war nicht sehr hoch, aber für einen Siebenjährigen immer noch hoch genug, und Florian war froh, als er endlich oben war. Auf der anderen Seite war es stockfinster, kein Lichtstrahl verirrte sich dorthin. Wenn er hinuntersprang, wußte er nicht, wo er landen würde.

      »Und?« fragte Max von unten. »Wie sieht’s aus?«

      »Ich kann überhaupt nichts sehen auf der anderen Seite. Total dunkel«, berichtete Florian.

      »Warte«, meinte Max, »ich komme auch hoch.«

      Aber das war leichter gesagt als getan, denn Max hatte Florian von unten geschoben, aber das konnte Florian nun nicht tun, denn er war ja schon oben. Er setzte sich rittlings auf die Mauer, um sicherer zu sitzen, und streckte seine Hand aus. »Komm, ich zieh dich rauf!« sagte er.

      »Aber fall bloß nicht runter«, meinte Max.

      »Nein, mach’ ich nicht«, versprach Florian. »Ich sitze hier oben ganz fest und sicher.«

      Max ergriff seine Hand und zog sich hoch. Er hatte es gerade geschafft und landete schwungvoll neben seinem Freund, als dieser doch noch das Gleichgewicht verlor. Vergebens versuchte Max, ihn festzuhalten, doch er hatte selbst Schwierigkeiten, die Balance nicht zu verlieren. Also fiel Florian auf die andere Seite in die Dunkelheit.

      »Verdammter Mist!« schimpfte Max.

      Florian schrie auf, danach gab es ein platschendes Geräusch, gefolgt von einem häßlichen Krachen und Knirschen, und dann war alles still.

      »Flo!« rief Max voller Panik. »Was ist passiert? Ist alles in Ordnung bei dir da unten?«

      Er bekam keine Antwort.