Ihrer Müdigkeit war es wohl auch zuzuschreiben, daß ihr erst sehr spät auffiel, wie still Florian an diesem Morgen war. »Sag mal, Flo, ist irgend was passiert gestern abend?« fragte sie.
»Nee, was soll denn passiert sein?« nuschelte er, während er sich eifrig Cornflakes in den Mund schaufelte.
»Das weiß ich nicht. Hast du dich mit Rainer gut verstanden?«
»Mhm.«
»Was habt ihr denn gemacht den ganzen Abend?«
»Gelesen und ferngesehen. Außerdem hat er mich ziemlich früh ins Bett geschickt.«
»Das war ja auch vernünftig«, stellte Gabriele fest. »Sei froh, daß du nicht so müde bist wie ich.«
Endlich hob er den Kopf. »Hast du viele Leute operiert?«
»Ja, so viele wie noch nie zuvor. Es war schrecklich, Flo. Eine richtige Katastrophe. Viele Menschen sind einfach aus dem Fenster gesprungen, weil sie nicht verbrennen wollten.«
Er dachte nach. »Ich glaube, das würde ich auch machen.«
Sie hob hilflos die Schultern. »Die Folgen sind so oder so schrecklich. Entweder hatten die Menschen furchtbare Brandverletzungen, oder sie hatten sich sämtliche Knochen gebrochen. Aber die meisten sind gerettet worden.« Sie sah auf die Uhr. »Wir müssen fahren, Flo, sonst kommst du zu spät!«
Er widersprach nicht, sondern stand sofort auf. Und er trödelte auch nicht wie sonst herum. Zwei Minuten später war er bereits fertig, und sie hätte ihn am liebsten gefragt, ob wirklich alles in Ordnung mit ihm war. Aber wenn er nicht reden wollte…
Sie fuhr ihn zur Schule und sah ihm mit stolzem Lächeln nach. Er war ein großartiger Junge, sie war froh, daß sie ihn hatte. Sie wartete noch, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, dann fuhr sie zurück nach Hause. Sie hatte noch ein bißchen Zeit, bis sie in der Klinik sein mußte.
*
Florian kam erst in der großen Pause dazu, Max zu erzählen, was passiert war.
»So ein Schwein!« sagte Max entrüstet. Er drückte sich immer sehr deutlich aus. »Wie du da unten aussiehst, geht ihn doch überhaupt nichts an.«
Dieser Ansicht war Florian auch. »Aber er hat immer weitergeredet«, sagte er. »Daß alle über mich lachen und daß ich nie ein richtiger Mann werde und immer am Rockzipfel meiner Mama hänge – und lauter so Sachen hat er gesagt.«
»Wir können zur Polizei gehen!« schlug Max vor. »Die nimmt ihn vielleicht fest.«
»Glaub’ ich nicht, er hat mir ja nichts getan. Nur geredet hat er. Aber das war schlimm genug.«
»Du mußt es deiner Mutter sagen«, meinte Max. »Die wird sich auch schrecklich aufregen.«
Florian schüttelte den Kopf. »Ich laufe weg. Und du mußt mir dabei helfen.«
»Du willst abhauen?« fragte Max entrüstet. »Und ich? Willst du mich allein lassen? Was soll ich denn mit den anderen Pennern hier anfangen?«
Das tat Florian gut, aber er würde seinen Entschluß dennoch nicht ändern. »Ich muß weg!« sagte er ernst. »Sonst heiratet sie ihn. Aber wenn ich weglaufe und ihr einen Brief schreibe, was passiert ist, dann jagt sie ihn weg. Und dann kann ich wieder nach Hause zurück.«
Max sah das Ganze von der praktischen Seite. »Erzähl’s ihr doch einfach«, schlug er vor. »Dann mußt du gar nicht erst weglaufen.« Er fand Florians Vorhaben einfach zu aufwendig.
»Sie glaubt mir vielleicht nicht«, entgegnete Florian bedrückt. »Er wird sagen, daß alles ganz anders war und daß ich nur übertreibe. Aber wenn ich weglaufe, dann sieht sie, daß es mir ernst ist. Deshalb will ich das machen.«
Max dachte lange nach. »Wahrscheinlich hast du recht«, meinte er schließlich. »Aber dann komme ich mit. Seinen besten Freund läßt man nicht allein abhauen.«
Florian war sehr erleichtert, dennoch widersprach er seinem Freund. »Aber dann sind deine Eltern traurig, und sie werden gar nicht verstehen, warum du auf einmal nicht mehr da bist.«
»Ich schreibe ihnen auch einen Brief«, erklärte Max.
Es klingelte zum Ende der großen Pause, und sie gingen zurück zum Schulgebäude. »Ich weiß schon, wie wir das machen«, sagte Max. »Ich erklär’s dir auf dem Nachhauseweg.«
Florian nickte, seltsam getröstet. Immerhin war er nicht ganz allein auf der Welt. Es war doch gut, einen allerbesten Freund zu haben.
In Gedanken begann er, den Brief an seine Mama zu entwerfen. Deshalb war er an diesem Morgen so unaufmerksam, daß sich die Lehrer über ihn wunderten, denn sonst war er eigentlich ein guter und wißbegieriger Schüler.
*
»Und ich habe von der ganzen Aufregung überhaupt nichts mitbekommen«, sagte Konrad Eder zu Adrian Winter, mit dem er wieder einmal einen Kaffee zusammen trank. »Ich hatte ein paar Tage frei und bin weggefahren. In der Zeitung habe ich dann von dem Brand gelesen.«
»Wir sind immer noch überbelegt«, erwiderte Adrian. »Die Notaufnahme konnte zwar geräumt werden, aber auf den Stationen liegen die Leute noch auf den Gängen.«
Konrad nickte. »Sogar bei uns auf der Kinderstation. Aber in den nächsten Tagen normalisiert sich das bestimmt wieder.«
»Ich habe übrigens mein Urteil über Frau Plessenstein revidiert«, sagte Adrian. »Sie hat auch die halbe Nacht operiert, bei der Gelegenheit haben wir uns dann offiziell kennengelernt. Wir haben ein paar Worte gewechselt, als alles vorbei war. Vielleicht hattest du doch recht. Sie wirkte tatsächlich nicht eingebildet, sondern eigentlich nur sehr nett.«
»Hab’ ich dir ja gesagt, aber du wolltest mir nicht glauben.« Konrads braune Augen lächelten.
»Wußtest du, daß sie einen Sohn hat?«
»Einen Sohn?« fragte Konrad. »Nein, davon wußte ich nichts. Und – einen Mann hat sie auch?«
»Einen Freund, wenn ich das richtig sehe. Sie hat so etwas erwähnt, daß er bei dem Jungen geblieben ist, als sie in die Klinik mußte. Sie hat allerdings ›ein Freund‹ gesagt und nicht ›mein Freund‹.«
Nachdenklich rührte Konrad in seiner Kaffeetasse. »Komisch, auf die Idee, daß sie ein Kind haben könnte, bin ich gar nicht gekommen. Dumm, nicht? Aber sie wirkt so selbständig und unabhängig, daß ich automatisch gedacht habe, sie müsse alleinstehend sein.«
»Ja, unsere Vorurteile«, sagte Adrian. »Sie spielen uns doch immer wieder nette Streiche.«
»A propos Vorurteile. Was ist mit deiner Abneigung gegen den neuen Verwaltungsdirektor? Hat sich die bei der Gelegenheit auch gegeben? Ich habe gehört, daß er die ganze Nacht auf den Beinen war und organisatorisch ziemlich viel geleistet hat.«
»Das stimmt«, gab Adrian zu. »Aber ich traue ihm nicht. Das tut er alles, um einen guten Eindruck zu machen, wenn du mich fragst. Bei vielen ist ihm das ja auch gelungen. Aber warte mal ab, was passiert, wenn wir mit unseren ganz normalen Problemen ankommen. Mehr Personal für die Notaufnahme hat er mir jedenfalls nicht bewilligt.«
»Das kann er ja auch nicht im Alleingang«, gab Konrad zu bedenken. »Sei nicht so hart, bisher hat er sich nichts zuschulden kommen lassen.«
»Wart’s ab«, wiederholte Adrian stur. »Ich sage dir, er ist ein Bürokrat, wie er im Buche steht!«
Konrad widersprach ihm nicht mehr. Wenn Adrian so ein Gesicht machte wie eben jetzt, dann konnte man sich seine Argumente sparen, das wußte er aus Erfahrung.
*
Auch an diesem Abend fand Gabriele, daß Florian stiller war als sonst, aber was sie auch versuchte, um ihn zum Sprechen zu bringen, es half nichts. Er antwortete ihr ausweichend, zumindest empfand sie es so. Schließlich rief sie die Mutter von Max an, um zu hören, ob diese etwas wußte.