Auf zu neuen Ufern. Arne Kopfermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arne Kopfermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961224524
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und der charismatischen Bewegung ist auch die sogenannte „geistliche Kampfführung“ aufgebracht worden. Diese Lehre geht davon aus, dass Städte, Regionen oder Länder unter dem Einfluss „territorialer Mächte“ (also von Dämonen) stünden und durch Gebetsversammlungen und sogenanntes „gebietendes Gebet“ vertrieben werden müssten. Erst dann könne eine geistliche Erweckung, also eine breit wahrnehmbare Hinwendung zum christlichen Glauben, geschehen. Im Zusammenhang mit der Dritten Welle und der charismatischen Bewegung trat als Phänomen auch vermehrt das sogenannte „Ruhen im Geist“ auf, bei dem meist unter Handauflegung dafür gebetet wird, dass Menschen mit der Kraft des Heiligen Geistes erfüllt werden, und diese dann als Folge des Gebetes und der empfundenen Krafteinwirkung in einer Art geistlicher Trance zu Boden sinken.

      Neben den aufgeführten Sonderlehren und besonderen Akzenten versteht sich die charismatische Bewegung zumeist als Teil der weltweiten Evangelikalen und teilt etliche ihrer grundlegenden Überzeugungen, zum Beispiel die Notwendigkeit einer bewussten Glaubensentscheidung („Lebenshingabe“ an Jesus Christus), eines missionarischen Lebensstils oder des Schutzes ungeborenen Lebens. Auch vertritt sie weitestgehend eine konservative Sexualethik und eine große Liebe zum Volk Israel.

      Falls Sie als Leserin und Leser mit „den Evangelikalen“ nicht vertraut sein sollten: Ich stelle sie im nächsten Kapitel noch näher vor.

      Die 80er-Jahre gaben für mich als Teenager den Startschuss zu meiner Glaubenserfahrung. Damals konnte man relativ schnell umreißen, was die Charismatiker (und Pfingstler) von den Evangelikalen unterschied: Die Charismatiker betonten nicht nur wie oben beschrieben die Gnadengaben des Heiligen Geistes, sein übernatürliches Wirken und die damit verbundene bis ins Körperliche erfahrbare Gegenwart Gottes. Sie hatten auch eine ausgeprägte „Glaubenstheologie“.

      Fast zeitgleich sammelte das unabhängige, Kirchen übergreifende amerikanische Label Integrity Music nach seiner Gründung 1987 die beliebtesten Songs charismatischer Worship-Kultur. Ursprünglich als Subskriptionsmodell gestartet, das viermal im Jahr neue Kassetten und CDs auf den Markt brachte, wurde das Label innerhalb kürzester Zeit zu einem Global Player.

      In charismatisch geprägtem Worship wird betont, dass Gott nahbar ist und „im Lobpreis seines Volkes wohnt“ (bezogen auf Psalm 22,4). Dass man sich folglich der Nähe und Aufmerksamkeit von Jesus gewiss sein kann, wenn eine Haltung von Lobpreis und Anbetung das alltägliche Leben prägt. Und dass der Worship damit auch zum Türöffner für das übernatürliche Eingreifen Gottes wird. Infolgedessen wurden charismatische Veranstaltungen wie Heilungsgottesdienste oder Zusammenkünfte mit Segnungsteilen (sogenannten „Ministry Times“, in denen auch der Weitergabe von prophetischen Eindrücken viel Raum gegeben wurde) oft von durchgehendem Worship begleitet.

      Die Evangelikalen lehnten diese Form von Anbetung zunächst weitgehend ab und warnten wie schon ihre geistlichen Väter vor spiritueller Schwärmerei ohne Bodenhaftung. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: vor einem allzu selbstbezogenen Glaubensvollzug, der den eigenen Erfahrungen und persönlichen Offenbarungen zu viel Bedeutung beimisst.

      Seit den 1980er-Jahren ist viel passiert. Die Worship-Bewegung ist nicht länger die exklusive Domäne von Gemeinden pfingstlerisch-charismatischer Prägung. Christen unterschiedlichster Couleur sehnen sich nach einer unmittelbareren Form der Gottesbegegnung. Und auch wenn Prophetie in evangelikalen Kreisen lieber „Hören auf die Stimme Gottes“ genannt wird, hat sie dort im Laufe der vergangenen Jahrzehnte viel stärker Einzug gehalten, als dies aufgrund der langjährigen Ressentiments der Evangelikalen zu erwarten war. Und wenn geliebte Menschen erkranken, dann beten viele Evangelikale heute deutlich offensiver für körperliche Heilung als noch vor wenigen Jahren. An der Praxis dieser geistlichen Rituale kann man also die Unterschiede evangelikaler und pfingstlerisch-charismatischer Frömmigkeit nicht länger festmachen. Es sind dagegen die inneren Leitsätze und Haltungen, die sich oft unterscheiden.

      Ich wurde als Kind der charismatischen Bewegung groß. Mein Vater Wolfram Kopfermann, ein begnadeter Prediger, Bibellehrer und Intellektueller, leitete zwischen 1977 und 1987 den Koordinierungsausschuss der Geistlichen Gemeinde Erneuerung (CHARGE, später GGE) innerhalb der Evangelischen Landeskirche. Er lud in dieser Funktion prägende Prediger-Persönlichkeiten wie den schon erwähnten John Wimber oder auch Colin Urquhart zu Themen wie „Heilung“ und „Evangelisation in der Kraft des Heiligen Geistes“ nach Deutschland ein. Und er gestaltete an der Hauptkirche St. Petri, die an der Mönckebergstraße, der zentralsten Einkaufsstraße in der Hamburger Innenstadt, liegt, charismatische Gottesdienste. Diese verzeichneten rasch ein rasantes Wachstum: Innerhalb weniger Jahre wuchs die Besucherzahl auf über 1 000 Personen an. Über 80 Hauskreise, eine Jugendarbeit mit mehr als 150 Mitgliedern und Glaubensgrundkurse, an denen buchstäblich Tausende Gemeindeferne teilnahmen, sind nur einige Merkmale einer geistlichen Bewegung, die es bis auf die Titelseiten der einschlägigen Gazetten dieses Landes brachte. Sie polarisierte und fand gleichzeitig im gesamten deutschsprachigen Raum Sympathisanten und Nachahmer.

      Inmitten dieses aufregenden geistlichen Aufbruches vertraute ich im Alter von zwölf Jahren mein Leben Jesus an und versprach, ihn als Herrn und Freund in alle wesentlichen Lebensbereiche zu integrieren – nachdem im „Kopfermanden“-Unterricht, dem Konfirmanden-Unterricht meines Vaters, an diesem Tag die „Notwendigkeit einer persönlichen Hinwendung zu Jesus Christus“ thematisiert worden war. Anfang 1980, wenige Wochen zuvor, hatte ich mich bei einem Konzert von Manfred Siebald noch nicht getraut, als der „Altarruf“ erfolgte: ein Aufruf von der Bühne, eine solche persönliche Lebenshingabe zu vollziehen. Doch nun, im Wohnzimmer meiner Großmutter auf dem Boden kniend, sprach mir mein Vater die Worte vor, die mich zu einem „hingegebenen Christen“ machen sollten. Die Entscheidung fühlte sich gut und richtig an, und schnell brachte ich mich voller Leidenschaft ins Gemeindeleben der St.-Petri-Gemeinde ein.

      Ich lernte fast zeitgleich, Gitarre zu spielen, und begann noch im selben Jahr, meine ersten Lieder zu schreiben. Sie bestanden am Anfang fast ausschließlich aus Psalm- oder Kirchenliedneuvertonungen. Mit 14 Jahren übernahm ich Verantwortung als Jugend-, Teestuben- und Lobpreisleiter und lernte im Rahmen der Jugendarbeit meine spätere Frau Anja kennen. Wir sind also gemeinsam kirchlich groß geworden und teilen deswegen viele prägende Erinnerungen unserer Jugend miteinander, auch wenn wir erst neun Jahre später ein Paar wurden. Im Alter von 16 Jahren übernahm ich die musikalische Leitung in den charismatischen Abendgottesdiensten, die mittlerweile die größten regelmäßigen Veranstaltungen in der Evangelischen Landeskirche Hamburgs darstellten. Mein Bruder spielte Keyboard, und