Alle Schätze der Erkenntnis
Wie ein Buch mit sieben Siegeln muten Deine Pläne an
Ich würd mich gern in Dir spiegeln
Spüre, dass ich das nicht kann
Warum bleibst Du mir verborgen
Wenn ich doch vertrauen will
Könnt ich mir Dein Wissen borgen
Wär wohl meine Seele still, doch ich weiß nicht viel
Alle Schätze der Erkenntnis sind verborgen, Gott, in Dir
Doch Du bleibst nicht im Verborgnen:
Wie ich bin, begegne mir
Wie gern würd ich tiefer graben und wie gerne weiter sehn
Wie gern Sicherheiten haben, wenn die Stürme um mich wehn
Doch im Auge dieser Winde finde ich den Gott, der trägt
Find ich erst in mir das Kinde, das sich Dir zu Füßen legt, in Deine Arme legt
Manchmal muss ich mit Dir ringen
Ist der Blick auf Dich verstellt
Dann will ich kein Loblied singen
Wenn die Not der Welt mich quält
Doch Dein göttliches Erbarmen
Trägt mich durch in schwerer Zeit
Ich vertraue Deinem Namen:
Du bist mit uns, auch im Leid, Du bist niemals weit
Meine Frau und ich haben uns nicht aufgegeben. Wir haben nicht den Kopf in den Sand gesteckt oder den Glauben an den Nagel gehängt, obwohl wir menschlich gesprochen jedes erdenkliche Recht dazu gehabt hätten. Wir sind kein bitteres, zynisches Paar geworden, das nur noch rückwärtsgewandt lebt oder das Lebensende herbeisehnt. Und das ist gar nicht selbstverständlich! Ich sagte eingangs, dass Glaube ein Muskel ist, den man im Laufe seines Lebens trainieren kann. Dass es aber auch die Krankheit des Muskelschwundes gibt, die sinnbildlich gesprochen den Glauben erfassen kann, wenn tiefe Erfahrungen von Leid, Verlust oder himmelschreiender Ungerechtigkeit in unser Leben treten. Dann brauchen wir den Glauben als Geschenk.
Viele Menschen haben mich seit unserem Unfall gefragt, warum ich meinen Glauben nicht verloren habe. Meine erste, fast reflexartige Reaktion war, das könnte daran liegen, dass so viele Menschen für uns gebetet haben. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto unsinniger erschien mir die Antwort. Denn wenn der Vater im Himmel ein gerechter Gott ist, dann kommt es nicht auf die Anzahl der Gebete an. Dann kann jemand, der nicht wie ich in der Öffentlichkeit steht, genauso darauf hoffen, dass Gott die Gebete der wenigen Menschen in seinem Umfeld erhört. Viele Christen, die existenzielle Verluste erleiden müssen, verzweifeln erst einmal an ihrem Glauben. Das kann ich ihnen nicht verdenken. Ich kann nur meine Geschichte erzählen und hoffen und beten, dass sie ihnen Mut macht, nicht aufzugeben.
Eine wesentliche Aufgabe, die meine Frau und ich unabhängig voneinander bewältigen mussten, bestand darin, eine gründliche Inventur unseres Glaubenslebens vorzunehmen. Wir mussten die Leitsätze unter die Lupe nehmen, die wir zum Teil schon seit unserer Kindheit in uns trugen. Die Prinzipien, die wir für uns als Wahrheit erachteten. Die Begleiterscheinungen, die wir als Teil unserer Frömmigkeit begrüßten, akzeptierten oder wenigstens duldeten. Die Strukturen, in denen wir uns eingerichtet hatten, wenn auch manchmal mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube. Und auch die Methoden, mit denen in unserem geistlichen Umfeld gearbeitet und Gemeindeaufbau betrieben wurde. Wir mussten uns den bohrenden Fragen unserer vom Schmerz aufgewühlten Herzen stellen und einige drastische Schritte unternehmen, die zum Teil schon längst überfällig waren.
Ein aus unseren Überlegungen erwachsener Schritt, den Anja und ich glücklicherweise gemeinsam vollzogen, war das Verlassen unserer langjährigen Gemeinde. Kein leichter, denn sie war mehr als zwanzig Jahre lang unsere geistliche Heimat gewesen – also beinahe unser halbes Leben lang. Ich habe seitdem mit einigen Freunden und Wegbegleitern gesprochen, die in unserem Alter sind und aus den unterschiedlichsten Gründen in den vergangenen Jahren einen ähnlichen Schritt vollzogen haben. Ihre Berichte weisen viele Ähnlichkeiten auf. Für uns war die Entscheidung gut! Anja und ich erleben es heute als großen Segen, ein neues geistliches Zuhause gefunden zu haben, das zu uns und unseren teilweise im Erleben von persönlichem Leid neu gewonnenen Überzeugungen passt.
Der Würzburger Pastor Volker Halfmann hat ein Buch geschrieben, in dem er auf sehr authentische Art und Weise Einblick in seinen Kampf mit Zwangsstörungen, Depressionen und Süchten gibt. Es trägt den vielsagenden Titel Mein goldener Sprung in der Schüssel und hat ein bemerkenswertes Cover. Darauf ist das Foto seines Kopfes zu sehen, durch den kleine Linien aus Gold und Silber laufen. Das Bild nimmt Bezug auf die wunderschöne mittelalterliche japanische Kunstform des Kintsugi und benutzt diese als Allegorie für die Seele des Menschen:
„Kintsugi ist eine traditionelle japanische Reparaturmethode für zerbrochene Keramik. Der Legende nach geht diese Kunst zurück auf Ashikaga Yoshimasa, einen militärischen Anführer des 15. Jahrhunderts. Als ihm eine überaus wertvolle chinesische Teeschale zerbrach, gab er japanischen Kunsthandwerkern den Auftrag, eine Methode zu entwickeln, mit der sie in neuem Glanz erstrahlen würde. Das war die Geburtsstunde von Kintsugi. Das Einzigartige an dieser Reparaturmethode ist, dass die Zerbrochenheit der Keramik nicht verdeckt werden soll, sondern geradezu hervorgehoben wird. Dies geschieht, indem die einzelnen Bruchstücke mit Urushi-Lack geklebt werden, einem japanischen Speziallack, der anschließend mit Gold oder Silber verziert und lackiert wird. Sollten einzelne Scherben fehlen, so werden diese durch mehrere Schichten von Urushi-Kittmasse ergänzt. Das Ergebnis ist erstaunlich. Denn dort, wo vorher die Bruchstellen waren, ziehen sich nun Gold- oder Silberadern durch das Gefäß und verleihen diesem eine einzigartige Ausstrahlung.
Was mich an Kintsugi sofort fasziniert hat, ist das Schönheitsideal, das hinter dieser Kunst steht. In Japan wird diese Ästhetik ,Wabi-Sabi‘ genannt. Sie ist geprägt von der Überzeugung, dass man gerade auch im Fehlerhaften und Vergänglichen eine einzigartige Schönheit erkennen kann. Denn nicht die Makellosigkeit eines Objektes ist entscheidend, sondern vielmehr der besondere Glanz, der von ihm ausgeht. Bei Kintsugi entsteht dieser Glanz gerade in der Zerbrochenheit.“ 13
Einen ähnlichen Gedanken finden wir in 2. Korinther 4, Verse 6 und 7, wo Paulus schreibt: „Denn so wie Gott einmal befahl: ,Licht soll aus der Dunkelheit hervorbrechen!‘, so hat sein Licht auch unsere Herzen erhellt. Jetzt erkennen wir klar, dass uns in Jesus Christus Gottes Herrlichkeit entgegenstrahlt. Diesen kostbaren Schatz tragen wir in uns, obwohl wir nur zerbrechliche Gefäße sind. So wird jeder erkennen, dass die außerordentliche Kraft, die in uns wirkt, von Gott kommt und nicht von uns selbst“ (Hervorhebung des Autors).
Zwei gemeinsame Konzertlesungen mit Volker haben mich inspiriert, das Bild von Kintsugi aufzugreifen und einen Song aus der Perspektive Gottes zu schreiben. Ich möchte ihn an das Ende dieses Kapitels stellen – „Kintsugi-Herz“:
Kintsugi-Herz
Es kam anders als erwartet und es ließ dir keine Wahl
Warst so lebensfroh gestartet, gehst jetzt durch ein tiefes Tal
Etwas in dir ist zerbrochen, das so schnell nicht heilen kann
Es bleibt meist unausgesprochen
Doch das ändert nichts daran
Ich seh dich, ich hör dich
Kintsugi-Herz, ich füll die Risse aus mit Gold
Kintsugi-Herz, du bist geliebt, du bist gewollt
Kintsugi-Herz,