Auf zu neuen Ufern. Arne Kopfermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arne Kopfermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961224524
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https://www.deutschlandfunk.de/judentum-wer-nicht-fragt-bleibt-dumm.886.de.html?dram:article_id=425326, abgerufen am 14.03.2020.

      5 Max Frisch: Tagebuch 1946 – 1949, Frankfurt 1985, S. 53.

      6 Dr. Michael Diener: Der Kurs Gnadaus und die Rolle des Präses. Rückblick und Ausblick. Mitgliederversammlung des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes e. V., Elbingerode, 13. bis 15. Februar 2020, S. 8.

      KAPITEL 2

      STATIONEN MEINER GEISTLICHEN LEBENSREISE

      Das Ringen um einen differenzierten Glauben

      Herr, gib allen, die dich suchen, dass sie dich finden, und allen, die dich gefunden haben, dass sie dich aufs Neue suchen, bis all unser Suchen und Finden erfüllt ist in deiner Gegenwart.

      Hermann Bezzel

      Wenn ich rückblickend die unterschiedlichen Stationen meiner geistlichen Lebensreise betrachte, merke ich, dass ich wesentliche Überzeugungen und Verhaltensmuster der charismatischen Bewegung hinter mir gelassen habe, die viele Jahre zu meinem Glaubensleben dazugehörten.

      Damit will ich jedoch keine Austrittserklärung abgeben. Ich will nicht mit meiner Vergangenheit abrechnen, denn ich verdanke ihr viel. Ich habe auch nicht vor, mich von Weggefährten zu distanzieren. Viele von ihnen gehören nach wie vor zu meinem Freundes- und Bekanntenkreis, und ich schätze ihre Überzeugungen und ihre Integrität weiterhin sehr. Ich versuche ebenfalls nicht, pfingstlerisch-charismatische Frömmigkeit über einen Kamm zu scheren. Ich behaupte nicht, alle Christen, die sich zu dieser Glaubensrichtung zählen, würden die Überzeugungen oder Missstände als richtig empfinden, die ich im Rückblick auf meine bisherige geistliche Reise kritisch beleuchten werde. Auch behaupte ich nicht, man könnte nicht mit inhaltlichen Sätzen der charismatischen Bewegung ringen und trotzdem aktiver Teil von ihr bleiben. Im Gegenteil: Viele Charismatiker leiden ebenfalls unter den Extremen in ihren Reihen und würden viele meiner Sätze unterschreiben.

      So schrieb mir ein leitender Vertreter dieser Gemeinderichtung, den ich sehr schätze, nach der Veröffentlichung meines Artikels zum Thema „Warum ich kein Charismatiker mehr bin“ in der christlichen Zeitschrift „Aufatmen“ eine E-Mail:

       „Mein Verständnis vom Charismatiker-Sein ist vielleicht ein anderes als Deines. Ich trage das Label nicht wie eine Monstranz vor mir her, und nach dem, was ich von Dir hier gelesen habe, stehen wir beide uns theologisch wahrscheinlich sehr viel näher als viele andere Charismatiker, denn ich verstehe mich nicht in irgendeinem institutionellen Sinne als solcher. Insofern muss ich auch nicht verantworten, was andere tun. Ebenso scheinst Du nur Erfahrungen mit einem bestimmten Feld der charismatischen Bewegung gemacht zu haben, nimmst aber alle in Haftung. Ich vermute, dass Du dadurch auf der anderen Seite vom Pferd fällst.“

      Nun, genau das möchte ich nicht tun. Ich möchte nicht vereinnahmen und „zur Fahnenflucht anregen“. Ich möchte mit diesem Buch einen ehrlichen Einblick in Prozesse meiner Biografie geben. Denn wie schon am Anfang gesagt: Von manchen Leitsätzen und Verhaltensformeln musste ich mich im Laufe meines geistlichen Lebens trennen, und für mich persönlich gehört dazu auch, mich zumindest eine Weile von dem Milieu zu lösen, in dem sie mir am stärksten begegnet sind. Solche Prägungen können wie Schuhe sein, aus denen ich mit der Zeit herausgewachsen bin, auch wenn sie noch im Regal stehen. Sie passen mir nicht mehr, sind ausgetreten oder mittlerweile nicht mehr schön anzusehen. Sie gehörten eine Weile zu mir, aber wenn ich heute versuche, sie überzustreifen, hinterlassen sie beim Tragen Blasen.

      Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Das Wort „Charisma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Gnadengabe“. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff verwendet, um zu beschreiben, dass jemand eine besondere Ausstrahlung besitzt, also die Gabe, das Umfeld in besonderer Weise zu begeistern oder in den Bann zu ziehen. Die Anfang der 1960er-Jahre entstandene charismatische Bewegung bezieht sich jedoch auf die vom Heiligen Geist geschenkten Gnadengaben, die dem Aufbau der Kirche dienen sollen. Sie ist nach den Aussagen ihrer Gründungsväter auf dem Fundament der alten Pfingstbewegung entstanden. Ihre Initiatoren haben dort ihre ersten Erfahrungen gemacht und diese dann in ihre eigenen Kirchengemeinschaften hineingetragen. Der primäre Unterschied zwischen der traditionellen Pfingstbewegung und der charismatischen Bewegung bestand ursprünglich darin, dass Pfingstler eigene Gemeinden und Gemeindeverbände gebildet haben, während die charismatische Bewegung weltweit zuerst bewusst versuchte, in den bestehenden Kirchengemeinschaften zu wirken und sie „charismatisch zu erneuern“. Vor allem unter Anglikanern, Lutheranern, Katholiken, Methodisten und Baptisten. Ab dem Ende der 1980er-Jahre entstand dann auch in Deutschland eine Fülle von neu gegründeten freikirchlich-charismatischen Gemeinden.

      Ausgangspunkt der neuzeitlichen Pfingstbewegung ist die „Heiligungsbewegung“, die wiederum ihre Wurzeln im Methodismus hat, insbesondere in Wesleys Vollkommenheitslehre. Es ging hier um die Sehnsucht nach „völliger Heiligung“. Daraus resultiert die Lehre vom „vollen“ oder „vierfachen Evangelium“, nämlich von Christus als Erlöser, Heiligender, Heilender und kommender König, der am Ende der Zeit ein tausend Jahre andauerndes Reich auf der Erde errichtet. Zum Erreichen dieser „völligen Heiligung“ oder des „vollen Evangeliums“ ist nach traditioneller charismatischer Theologie eine „Geistes- oder Feuertaufe“ nötig, die getrennt von der „Wiedergeburt“ ist (eine Bekehrungserfahrung durch eine bewusst vollzogene Lebenshingabe an Christus) und auf diese als besondere Zweiterfahrung folgt, nämlich als eine Erfahrung der „völligen Befreiung von der Sünde“. Dabei nimmt der Heilige Geist im Christen nun buchstäblich Wohnung, der bei der Wiedergeburt nur „mit den Gläubigen“ ist, aber noch nicht „in ihnen“. Der Heilige Geist rüstet sie mit seinen Gaben aus. Die „Charismen“ oder „Geistesgaben“ wie Sprachengebet, Prophetie und Krankenheilung werden als Zeichen für die Geistestaufe angesehen. In der Pfingst- und charismatischen Bewegung wird zumeist auch gelehrt, dass man sich nach diesen Gaben und dem Heiligen Geist „ausstrecken“, sie also im Gebet erbitten, soll, da sie für die Erneuerung und Ausbreitung der Kirche als notwendig betrachtet werden. Die klassische charismatische Bewegung entstand auf dem Fundament der traditionellen Pfingstbewegung, daher sind viele ihrer Lehrsätze in Grundzügen ähnlich.

      Die Geistestaufe manifestiert sich nach Ansicht vieler Charismatiker in der „Zungenrede“ – auch „Sprachengebet“ genannt – und in der Gabe, prophetisch zu reden. Das Gebet um Krankenheilung spielt ebenfalls eine gewichtige Rolle, weil es aufgreift, dass christliche Verkündigung bei Jesus und in der Urkirche immer durch „Zeichen und Wunder“ beglaubigt wurde. Wie die Pfingstbewegung ist auch die charismatische Bewegung sehr erfahrungsorientiert. Das führt dazu, dass Theologie oft nicht dogmatisch und exegetisch betrieben, sondern durch die Brille der eigenen Erfahrung betrachtet und die Bibel zumeist wörtlich gelesen wird. Begleitet wird das Ganze oft durch die subjektiv als konkretes Reden Gottes empfundene Wahrnehmung ihrer Leiter.

      Aus der Pfingst- und der charismatischen Bewegung ging zu Beginn der 1980er-Jahre die sogenannte „Dritte Welle“ oder „Power Evangelism“-Bewegung hervor. Ihr Ziel war es, in diejenigen Kreise vorzudringen, die bisher von Pfingstlern und Charismatikern nur wenig erreicht wurden: vor allem konservative evangelikale Gemeinden und die Brüderbewegung. Durch die Konferenzen der Vineyard-Bewegung mit ihrem Leiter John Wimber wurden die Leitsätze dieser Bewegung Mitte der 1980er-Jahre in viele deutschsprachige Kirchengemeinden getragen. Neben der Bibel werden in der „Dritten Welle“ die „Tradition der gesamten Kirche“ und auch Erfahrungen mit Gottes Wirken heute als weitere Offenbarungsquellen genannt. In der Folge bildete sich hier eine Art „Prophetenbewegung“. Die Dritte Welle teilt über weite Strecken die Überzeugungen der Pfingstler und Charismatiker, betont aber besonders die Bedeutung von Zeichen und Wundern und der Prophetie für den Gemeindeaufbau. Nach ihrer Auffassung sind diese unerlässlich für die Ausbreitung von Gottes Reich, denn Erweckung geschehe normalerweise nicht ohne solche