Stell dich ins Licht, zeig dein Gesicht
Und bleib nicht irgendwo dazwischen
Wenn wir nicht freiwillig von Zeit zu Zeit eine Inventur unseres Glaubens vornehmen, wird es das Leben irgendwann von ganz allein für uns erledigen. Die Brüche in unserer Biografie und unsere Verlust- und Leiderfahrungen oder die uns nahestehender Menschen werden Fragen aufwerfen, die wir nur eine gewisse Zeit ignorieren können. Wenn wir uns ihnen nicht sehenden Auges stellen, wird das Fundament des Glaubens marode und beginnt mit der Zeit zu bröckeln. Einer der Sätze des Judentums war mir dabei in meinem eigenen Prozess eine große Hilfe: „Es kommt nicht darauf an, die Antworten zu kennen, sondern die richtigen Fragen zu stellen.“ Der Rabbiner Jehuda Teichtal, Vorsitzender des jüdischen Bildungszentrums Chabad Lubawitsch in Berlin, sagt dazu in einem Interview des Deutschlandfunks:
„Die über Jahrtausende eingeübte Kultur des Fragens war nie einer theologischen Elite vorbehalten. Das Studium der Texte, der Diskurs zu Fragestellungen des Talmuds oder des Rechts war für breite Schichten der männlichen jüdischen Bevölkerung prägend. Und sie ist ebenso eingegangen in die Säkularkultur, was sich in dem berühmten jüdischen Witz niederschlägt. Der hat nur zwei Sätze: Warum antwortet ein Jude auf eine Frage immer mit einer Gegenfrage? Warum nicht?“ 4
Um es mit einer Metapher zu veranschaulichen: Wasser kennen wir in drei unterschiedlichen Aggregatzuständen: fest, flüssig und gasförmig. Wenn man mit einem Hammer auf einen Eisblock schlägt, wird der Eisblock zersplittern, und die Eisbrocken werden in alle Himmelsrichtungen davonfliegen. Versucht man aber, mit einem Hammer auf ein fließendes Gewässer einzuschlagen, wird das Wasser an dieser Stelle nur kurz zur Seite gedrängt und fließt dann unbeirrt weiter – die Wucht des Schlages kann ihm nichts anhaben.
Ähnliches gilt für den Glauben: Wenn wir ein eher starres, mit vielen absoluten Sätzen gespicktes Bild des Glaubens haben und dann Schicksalsschläge erleben, besteht die Gefahr, dass unsere Glaubensbilder mit ihren für uns als selbstverständlich angenommenen Automatismen zersplittern. Wir haben uns so auf unsere Überzeugungen versteift, dass wir unbeweglich geworden sind. Weil die alten Sätze dem Erlebten jedoch nicht mehr standhalten, zerbricht das ganze Gebilde.
Wenn unser Glaube aber im Fluss, also in Bewegung, ist und unsere Vorstellung von Gott und wie er zu handeln hat, nicht in einen „Eisblock gemeißelt ist“, dann werden wir zwar die Kräfte spüren, die auf uns eindringen, aber wir müssen nicht daran zerbrechen.
Allerdings gibt es hinsichtlich des Glaubens auch einen dritten Aggregatzustand: „Gasförmig“ ist unser Glaube dann, wenn wir leichtgläubig und unreflektiert geistlichen oder ideologischen Modeerscheinungen nachlaufen, ohne eigene, tragfähige Glaubenssätze zu entwickeln. Wenn wir dann an die Grenzen unserer Existenz stoßen und unser Glaube sich bewähren muss, werden wir feststellen, dass er genauso wenig tragfähig ist wie Moleküle im Wasserdampf.
Es geht also darum, einen Glauben zu entwickeln, der weder beliebig noch in Stein gemeißelt ist. Stattdessen sollten wir zu den eigenen, eher starren Überzeugungen immer eine gewisse „demütige Distanz“ wahren: Ist mein beschränktes Verständnis von Gott, seinem Wesen, seinen Wegen und seinem Wirken wirklich stichhaltig? Wo kann ich ihn nicht begreifen, erfassen, durchdringen – wo bleibt er mir in seinem Wesen fremd, weil er Gott ist und ich nur ein Mensch bin?
Von diesen hoffentlich „richtigen“ Fragen handelt das vorliegende Buch. Es geht um einen Glauben, der sowohl Muskel als auch Geschenk ist: Einen Muskel kann man trainieren, ein Geschenk kann man nur erbitten und empfangen. Das eine kann man mit geistlicher Disziplin entwickeln, das andere bleibt ohne das souveräne Zutun Gottes unverfügbar. Und so wie es beim Körper eine Erkrankung der Muskulatur gibt, die als „Muskelschwund“ bezeichnet wird – also eine Rückbildung bereits vorhandenen Muskelgewebes –, greift das Bild auch in Bezug auf den Glauben: Einschneidende persönliche Leid- und Verlusterfahrungen können eine über viele Jahre gepflegte Spiritualität ins Wanken bringen. Wenn man den Glauben dann neu geschenkt bekommt, obwohl die Narben bleiben und wir hinkend durchs Leben gehen, dann kann sich das wie eine Neugeburt anfühlen.
Vor ein paar Monaten kam mir wieder ein kleiner, für mich aber sehr besonderer Moment in den Sinn, der sich am Heiligabend 2014, wenige Wochen nach Saras Tod, ereignete. Am Mittag jenes Tages rief mich meine Frau an, die im Ort gerade letzte Einkäufe tätigte. Sie machte mich auf den vielleicht größten Regenbogen aufmerksam, den ich je über unserem Ort gesehen hatte. Er stand einige Minuten lang am Himmel – gefühlt direkt über unserem Haus. Es war, als wollte Gott uns mitten in dem unsäglichen Schmerz, den dieses erste Weihnachtsfest im „Leben danach“ mit sich brachte, unmissverständlich daran erinnern, dass er uns nicht vergessen hatte. Dass er sein Versprechen, uns beizustehen, niemals brechen würde.
Regenbogen
Wenn der Himmel sich verfinstert
Und die Sonne selbst nur bitt’re Tränen weint
Mich das Leben nicht begünstigt
Sondern auslacht und aufzugeben scheint
Wenn nach ein paar frohen Stunden
Wieder dieser Kloß in meiner Kehle steckt
Komm so grad über die Runden
Mit den Händen zum Himmel ausgestreckt
Dann zwischen Sonne und Regen
Trübsinn und Glück
Blinzelnd durch Tränen heb ich den Blick
Seh einen Regenbogen, scheinbar aus dem Nirgendwo
Regenbogen aus Rot, Gelb, Grün und Indigo
Regenbogen, die Wolken ziert ein Lichterkleid
Und die Leuchtschrift: Der Himmel ist nicht weit
Manchmal brauche ich ein Zeichen
Um zu sehn, Du lässt mich wirklich nie allein
Wenn sich graue Tage gleichen
Es mir schwerfällt, mal unbeschwert zu sein
Wenn ich auf der Stelle trete
Sich der Sinn von dem, was war, mir nicht erschließt
Ich für einen Durchbruch bete
Doch die Hoffnung auf „Schwermutmauern“ stößt
Du setzt diesen Bogen als sichtbares Zeichen:
Dein Bund mit mir hat stets Bestand
Du bist mir gewogen, wirst nie von mir weichen
Ich kann nie falln aus Deiner Hand
Wenn ich mich auf die Reise mache zu meinen innersten Leitsätzen, Ent-Täuschungen und bleibenden Hoffnungen, berührt das immer auch den Bereich meiner Wahrheitsempfindung. Das ist zuerst einmal ein subjektiver Prozess, aber je stärker er voranschreitet, desto stärker ist man von der eigenen Wahrheit überzeugt, was wiederum immer auch zu einer Abgrenzung gegenüber dem Andersdenkenden und -empfindenden führt. Auf der anderen Seite geht inneres Wachstum oft nur aus einer Mischung aus Übereinstimmung und Reibung mit anderen Positionen hervor. Dazu gehört dann auch das Verlassen der eigenen Wohlfühlzone und das Setzen von Grenzen: Nur wer sich abgrenzen kann, kann sich auch verorten. Die Kunst besteht darin, sich im Dialog mit anderen nicht durch Abgrenzung zu definieren, sondern durch eine möglichst klar umrissene eigene Positionsbeschreibung! Daher gleich am Anfang dieses Buches noch ein Wort zu Toleranz in der Diskussion mit Andersdenkenden:
In unserer Zeit ist es eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit, in Glaubensdingen und Lebensfragen seine eigene Sicht kundzutun. In unseren Breitengraden hat sich ein merkwürdiger Toleranzbegriff breitgemacht: Toleranz scheint heute ein so komplexer Begriff zu sein, dass damit nicht länger die Duldung oder das Geltenlassen oder Stehenlassen anderer Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten gemeint ist. Im Zeitalter eines ausgeprägten