Wenn ich eine Haltung kritisiere, die mir in Glaubensfragen als lückenhaft, gefährlich, veraltet oder nicht mit der Lehre von Christus vereinbar erscheint, wird mir heute so postwendend wie zielsicher Herzensenge vorgeworfen. Schließlich lasse ich ja die kritisierte Haltung nicht stehen und werde damit intolerant (in meiner Jugend hätte man dasselbe Vorgehen noch als couragiert bezeichnet). In dem Moment, wo ich Ab- und Ausgrenzung in der Kirche thematisiere, wo ich sage, dass sie nicht der Lehre und dem Lebensstil von Jesus entspricht, besteht die Gefahr, dass mir umgehend vorgeworfen wird, ich grenze mich ja selbst von den Ab- und Ausgrenzenden ab und sei damit kein Stück besser. Nur führt eine solche Herangehensweise leider auf Dauer zu einer Diskursunfähigkeit!
Es ist also eine knifflige Angelegenheit, einerseits Trennschärfe zu besitzen und andererseits das Bedürfnis nach Toleranz nicht zu verletzen. Man muss seine Worte konsequenterweise in noch mehr Watte packen. Muss das Für und Wider nicht nur abwägen, sondern auch zu Wort kommen lassen – als Sowohl-als-auch. Daher habe ich für dieses Buch viel gelesen, um die besten Argumente zu finden, zu sammeln und für mich sprechen zu lassen. Das war immer dann besonders wichtig, wenn ich das Gefühl hatte, dass ich zwar einer wertvollen Spur folge, aber noch nicht in der Lage bin, meine Gedanken und Eindrücke auch schon adäquat in Worte zu fassen. Entsprechend kommen in diesem Buch immer wieder andere Autoren zu Wort, die ich in ihrem Ringen um alltagsfähige Wahrhaftigkeit schätze und die mir in meinem eigenen Prozess des Sortierens und Abwägens sehr geholfen haben.
Als ich meine Gedanken zum Thema „Toleranz“ im Vorfeld der Buchveröffentlichung in einem sozialen Netzwerk angerissen habe, erhielt ich postwendend den sehr bedenkenswerten Kommentar eines Journalisten:
„Vielleicht wäre es besser, weniger mit ,richtig – falsch‘, ‚entweder – oder‘, ‚gut – böse‘, ‚wahr – unwahr‘ zu operieren und zu argumentieren. Angesichts der eigenen Entwicklung fällt es leichter, von ‚sowohl als auch‘ auszugehen. Und davon, den Andersdenkenden einzuladen, die ungewohnte Position mitzudenken, ohne sie gleich annehmen oder übernehmen zu müssen. Ein Diskurs erwartet von allen Beteiligten, auch Ungewohntes zu erwägen.
Gleichzeitig ist der Aspekt des Prozesses wichtig. Wachsende Erkenntnisse kommen ja in der Regel nicht schlagartig, sondern gehen mit einer persönlichen Entwicklung einher. Die mögen dem anders denkenden Diskutanten ja noch bevorstehen. Oder auch nicht.
Ein Letztes: Es ist gut, in der eigenen Argumentation klar und deutlich und zugleich einladend und ermunternd zu bleiben. Also weniger Watte, mehr Wolle: ‚Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, sodass er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um die Ohren schlagen.‘“
Er greift damit ein Zitat des Schweizer Schriftstellers und Architekten Max Frisch auf:
„Man begnügt sich nicht damit, dass man dem anderen einfach seine Meinung sagt; man bemüht sich zugleich um ein Maß, damit sie den andern nicht umwirft, sondern ihm hilft; wohl hält man ihm die Wahrheit hin, aber so, dass er hineinschlüpfen kann …
Warum so viel Erkenntnis, die … in der Welt ist, meist unfruchtbar bleibt: vielleicht weil sie sich selber genügt und selten auch noch die Kraft hat, sich auf den anderen zu beziehen – die Kraft: die Liebe. Der Weise, der wirklich Höfliche, ist stets ein Liebender. Er liebt den Menschen, den er erkennen will, damit er ihn rette, und nicht seine Erkenntnis als solche.“ 5
Worte haben Macht. Im besten Fall sind sie wie ein Skalpell, das nur das wirklich kranke Gewebe vom gesunden Organismus trennt. Wird das Messer aber stumpf oder grobschlächtig geführt, dann fügt es auch den gesunden Zellen Schaden zu. In diesem Sinne hoffe und bete ich, dass dieses Buch zur eigenen Sondierung beiträgt, ohne gesunde Stellen zu sehr zu beanspruchen oder das Gute zu verletzen. Ich habe es in der Hoffnung geschrieben, dass selbst in der mir manchmal notwendig erscheinenden Abgrenzung von manchen Lehrmeinungen und Gemeindemarotten auf jeder Seite des Buches mein Anliegen deutlich wird, im Sinne Christi liebevoll und nicht vereinnahmend zu sein. Ich möchte immer unterscheiden zwischen theologischen Leitsätzen, die ich nicht oder nicht mehr teile, und den kostbaren Menschen, die hinter anders gelagerten Positionen stehen.
Zum Schluss dieses Kapitels noch ein Zitat aus der Rede von Michael Diener, die er im Februar 2020 vor der Mitarbeiterversammlung des Gnadauer Verbandes hielt. Auch wenn er eine andere theologische Prägung hat als ich, bringt er das oben angesprochene Toleranz-Dilemma wunderbar auf den Punkt. Er führt aus, dass ein Präses, der nur noch das sagen könne, was alle mittragen, und dann auch nur mit homöopathisch dosierten Worten, die vor politischer Korrektheit nur so strotzen, im Grunde gar nichts mehr zu sagen habe:
„Ich tauge nur dann als Sprachrohr pietistischer Selbstverständlichkeiten, wenn ich auch das strittige, das aus meiner Sicht visionäre, das korrigierende oder verbindende Wort sagen darf. Und selbstverständlich geht das immer durch die Person hindurch: die Leidenschaft, mit der ich meinen Dienst lebe, drückt sich natürlich auch in meinen Themen und meiner Wortwahl aus. Ich bin nicht geklont, ich bin echt … ich überlege, wäge ab, und dann spreche oder schreibe ich. Und lebe mit den Folgen.“ 6
Schließlich noch ein Satz zu „gendergerechter Sprache“: Leider ist meine Sprachfähigkeit in dieser Hinsicht noch nicht sonderlich weit entwickelt, was mir durchaus bewusst ist. Für dieses Buch gilt, dass ich allein zur besseren Lesbarkeit nur die männliche, nicht geschlechtsneutrale Form verwende. Sofern nicht anders angegeben, sind aber immer beide Geschlechter gemeint und auch wertgeschätzt. So stand es jedenfalls in meinem Manuskript. Bis Christina Brudereck mir nach ihrer Vorablektüre in einer E-Mail folgende Sätze schrieb:
„Dass wir Schwestern, Freundinnen, Frauen, Künstlerinnen natürlich mitgemeint sind, ist schön. Ich erlebe es so, dass es wirklich etwas anderes ist, wenn Du sagst: ,In einer Gruppe von Freundinnen und Freunden habe ich erlebt …‘ Das ist eine bunte Gruppe. Ich könnte vielleicht dabei sein. Anders, als wenn Du eben sagst: ‚In einer Gruppe von Freunden …‘ Da habe ich nur Männer vor Augen. Auch wenn Du es nicht so meinst. Vielleicht passt es ja an ein paar wenigen Stellen. Ich fände es schön. Es würde mich ansprechen!“
Das ist nicht nur ein kostbarer Gedankenanstoß, sondern auch noch eine sehr liebevoll geäußerte Form von Kritik, die mich zum Nachdenken gebracht hat. Das ist ein Veränderungsprozess, den ich bisher noch nicht ausreichend im Blick hatte, dem ich mich aber noch stellen kann und wahrscheinlich auch sollte. Anstatt jetzt in der Korrekturphase alle entsprechenden Stellen umzuschreiben, habe ich mich entschieden, die meisten Passagen unverändert stehen zu lassen. Bitte nehmen Sie mir diesen blinden Fleck nicht übel. Ich wünsche mir, dass Sie als Leserin sich im gleichen Maße angesprochen fühlen wie die männlichen Leser!
Natürlich möchte ich alle von Ihnen auf meine Lebensreise und in meine Gedankenwelt mit hineinnehmen. Vielleicht werden manche Gedanken in Zukunft auch ein Teil Ihrer Welt. Lassen Sie sich Zeit. Nehmen Sie nur die Sätze auf, die Sie weiterbringen und nicht überfordern. Überspringen Sie gern auch einmal einen Gedanken oder ein ganzes Kapitel. Wir müssen unser Leben selbst leben und wichtige Entscheidungen selbst treffen. Ob sie nun Bestand wahren oder Wandel bringen. In Verantwortung vor unserem eigenen Herzen und Gewissen. In Verantwortung vor unseren Partnerinnen und Partnern, Familien, Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen. Vor den Mitmenschen, auch denen auf der anderen Seite unseres wunderschönen Planeten. In Verantwortung vor jenen, mit denen wir unseren Glauben teilen, wenn wir einen persönlichen Glauben haben. In Verantwortung vor denen, die anders denken und anders glauben. Und in der Verantwortung vor Gott.
1 Thorsten Dietz: Weiterglauben. Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann. Moers 2018, S. 155, 157.
2 Philip Johnson, Mark Wigley: Dekonstruktivistische Architektur. Stuttgart 1988, S. 11.
3 Adolf Schlatter: Die