Man könnte denken: Jemand muss Arne warnen, „Let it Be“ singen, gute Ratschläge geben wie „Bleibe bei deinen Leisten, singe deine Lieder, erzähle aus deinem Leben, aber lass die Finger von der Theologie …“. Aber Gott sei Dank hat das keiner getan. Denn es ist so wichtig, dass wir alle miteinander im Gespräch bleiben, dass die Experten nicht um sich selbst kreisen, dass die wachen, frommen Menschen sich mit ihrer Erfahrung einbringen und ihrerseits hören und lernen, was andere vor ihnen schon gedacht haben.
Arne Kopfermann hat nicht einfach in sich hineingehört, so wichtig das auch ist. Er hat sich umgehört und viel gelesen, Gespräche und Begegnungen gesucht. Arne Kopfermann bringt Stimmen aus unterschiedlichen Räumen ins Gespräch. Konservative und progressive Evangelikale, landes- und freikirchliche Gläubige, Theologietreibende und Künstler. Und er führt damit vor Augen, was heute vielerorts so dringend benötigt würde: eine furchtlose Kultur des Theologisierens. Gesprächsräume ohne die Angst, dass die eigenen Gedanken nicht wissenschaftlich abgesichert sind oder nicht so lauten wie frühere Bekenntnisformeln. So viele Gespräche ersticken, weil Beiträge reflexhaft abgewürgt werden als „von gestern“ oder „zu subjektiv“, als „liberal“ oder „fundamentalistisch“, als „zu theoretisch“ oder „zu unwissenschaftlich“.
Haben wir in den vergangenen Monaten nicht alle gelernt, wie komplex es ist, über so etwas relativ Überschaubares wie das Corona-Virus belastbare Aussagen zu treffen? Wie notwendig es ist, selbst weltweit anerkannten Experten Lernkurven und Unsicherheit zuzugestehen? Wie wäre es, wenn wir im Gespräch über das sehr viel komplexere Thema „Gott“ einander zugestehen würden, Tastende, Lernende und Suchende zu sein?
Kann es die Lösung sein, auf das Geheimnis Gottes zu verweisen, das immer noch größer ist als alle unsere Theologien? Führt der Weg in die Weite nicht doch am Ende in die Einsamkeit, weil wir eine gemeinsame Sprache und verbindende Überzeugungen verlieren? Veränderung kann gelingen, wenn uns diese Einsicht nicht heraus-, sondern hineinführt in das, was christlichen Glauben ausmacht: „It’s all about you, Jesus.“ Gemeinschaft des Glaubens entsteht nie um diese oder jene Theorie herum. Wenn überhaupt, dann bei diesem Heiland. Und gerade bei ihm lässt sich lernen, tapfer loszulassen, mutig neu anzufangen. Persönlich und gemeinsam. Und dieser Weg durch die Umbrüche der Gegenwart hat gerade erst begonnen. Es gibt kein Zurück in eine heile Vergangenheit, in der noch alles gut war. Diese Zeit gab es nie.
Solche Umbaumaßnahmen beginnt keiner aus Übermut. Niemand beginnt freiwillig eine Schiffsreparatur auf hoher See. Das tun nur Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht. Die wissen, dass sich etwas ändern muss, wenn es weitergehen soll. Von solchen Umbaumaßnahmen auf hoher See handelt dieses Buch. Und durch sein Erscheinen beginnt eine neue Etappe. Es ist nicht mehr nur seine Glaubensreise. Arne Kopfermann hat viele Stimmen mit hineingeflochten in sein eigenes Suchen und Fragen. Und wir alle gestalten ihn weiter, unseren Aufbruch im Umbruch.
Thorsten Dietz
KAPITEL 1
AUFBRUCH ZU NEUEN UFERN
Die Notwendigkeit von Veränderung begreifen
Sören Kierkegaard hat die Aussage geprägt, dass man vorwärts gewandt leben muss, aber nur im Rückblick das Leben verstehen kann. Ich bin Jahrgang 1967, also beim Schreiben dieses Buches 52 Jahre alt. Das ist ein gutes Alter, um im vermutlich gerade auslaufenden zweiten Drittel meiner Existenz hier auf dieser Erde über das Leben und den Glauben zu reflektieren. Nicht, dass man das nicht auch schon mit 20 oder 30 tun könnte. Aber mit 50 habe ich schon mehr Facetten davon kennengelernt. Ich habe unterschiedliche Phasen miterlebt, die unsere Gesellschaft und auch die Kirche durchlaufen haben. Einige Ideale hinter mir gelassen und neue gefunden. Also reflektiere ich – und rede mit vielen unserer Freunde darüber.
Da gibt es die Gruppe von Freunden, die wie ich Zeit ihres Lebens in einer Kirchengemeinde aktiv gewesen sind. Die den Wandel der Zeit und verschiedene Entwicklungsstufen mitgemacht und für sich in den vergangenen Jahren wieder neu formuliert haben, wie sie sich heute Glauben und Kirche vorstellen. Eine Vorstellung, die dem Kinderglauben und auch dem Glauben der Junge-Erwachsenen-Jahre entwachsen ist. Was ihnen also heute wichtig ist und was an Gewicht verloren hat, obwohl es früher einmal einen großen Stellenwert hatte. Nicht selten ist ein starrer Dogmatismus einem spätmodernen Pragmatismus gewichen, und ihr Wahrheitsbegriff fühlt sich heute deutlich elastischer und biegsamer an als noch vor einigen Jahren.
Dann gibt es da die Gruppe von Freunden, die eigentlich nur an hohen Feiertagen, bei kirchlichen Festen wie Konfirmation und Hochzeit oder zu musikalischen Sonderveranstaltungen eine Kirche betreten – oder auf Reisen, dann aber aus touristischen Gründen. Auf ihren persönlichen Glauben angesprochen, sagen sie: „Ich habe durchaus einen eigenen Glauben, aber ich muss nicht Teil einer Kirche sein, um ihn auszuleben.“
Fast reflexartig stellt sich mir dann die Frage, warum es für diese Freunde in keiner Phase ihres Lebens sonderlich attraktiv war, im alltäglichen Leben Teil einer Glaubensgemeinschaft zu werden. Obwohl diese doch ihre Existenz bereichern könnte. Obwohl ich doch seit vielen Jahren den Satz vom Gründer der Willow Creek-Gemeinde in Chicago, Bill Hybels, in meinem Herzen verankert habe, dass „die Ortsgemeinde die Hoffnung der Welt ist“. Ich ahne, dass meine Freunde den Kirchen in diesem Land sowohl Alltagsrelevanz als auch Herzensweite absprechen würden. Dass sie nicht ausreichend als Orte wirken, die das Herz wärmen und die Seele trösten. Orte, an denen Liebe, Annahme und Vergebung das Miteinander prägen und weit über die Kirchenmauern hinaus in die Gesellschaft strahlen. Dass meine Freunde im Gegenteil zu viele moralinsaure, homophobe, bildungsfeindliche oder vorurteilsbeladene Christen kennengelernt haben. Fromme, die nicht nur meinen, ganz sicher in den Himmel zu kommen, sondern scheinbar auch eine gewisse Genugtuung dabei empfinden, dass es die anderen nicht tun. Dann mache ich mir bewusst, dass statistisch gesehen nur etwa 1,8 % der Bevölkerung unseres Landes, das ja einmal zum christlichen Abendland gezählt wurde, regelmäßig eine solche Gemeinschaft suchen – auch wenn sie ab und zu ein christliches Buch oder einen Internetartikel über Gott und Kirche lesen. Und das macht mich traurig.
Um es mit den Worten des Theologen Thorsten Dietz zu sagen, der in seinem wunderbar inspirierenden Buch Weiterglauben schreibt:
„Der Mensch lebt nicht vom Podcast allein, sondern auch von jeder sichtbar-leibhaften Gemeinschaft mit Menschen, denen Glaubensfragen wichtig sind. Christsein bedarf der Anregung durch konkrete Mitchristen, durch auf den ersten Blick schwer zugängliche Traditionen voller Weisheit und Tiefe. Christen brauchen die Erfahrungen gemeinsamer Aufbrüche, gemeinsamen Scheiterns und Weitermachens. Die Erfahrung, mit anderen zu singen, zu beten, das Abendmahl zu teilen …
Glaube ist eine Gemeinschaftsangelegenheit, die zugleich davor geschützt werden muss, in vorfindlichen Gemeinschaften des Glaubens aufzugehen …
Glaube entsteht nicht aus dem Nichts, sondern angeregt, angestoßen, hervorgelockt durch Vorbilder oder auch mal durch Gegenbilder. Glaube entsteht in Berührung mit Glaube.“ 1
Dieses Buch hat den Titel Auf zu neuen Ufern. Befreit zu einem ehrlichen Glauben, der trägt. Ich habe den Titel nicht gewählt, weil ich der Meinung bin, in den vergangenen 40 Jahren keinen ernsthaften oder ehrlichen Glauben gelebt zu haben. Ich glaube auch nicht, dass ich ihn erst jetzt so richtig finden kann, wo ich mich wieder auf die Reise begebe, denn das gesamte Leben ist in meinen Augen eine Pilgerreise in Richtung Ewigkeit, ob es uns nun bewusst ist oder nicht. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass wir unsere Überzeugungen auch im fünften, sechsten, siebten oder achten Lebensjahrzehnt nachjustieren müssen (falls uns so viel Zeit gegeben ist), wenn