Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Balint
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946334545
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Kafkas Arbeit gewesen, nämlich der zweite Internationale Kongress für Rettungswesen und Unfallverhütung). Auf dem Zionistenkongress hörte er Reden von Nahum Sokolow, Menachem Ussischkin, Arthur Ruppin und anderen einflussreichen Zionisten. Die Delegierten erlebten zudem die Premiere eines 78 Minuten langen Stummfilms des Regisseurs Noah Sokolowsky, der Panoramaansichten der neuen Stadt Tel Aviv, die Wahrzeichen von Jerusalem und die jüdischen Agrarsiedlungen in Judäa, am Karmel und in Galiläa zeigte.31

      Der Trubel ließ Kafka kalt. »Im Zionistischen Kongreß bin ich wie bei einer gänzlich fremden Veranstaltung dagesessen, allerdings war ich durch manches beengt und zerstreut gewesen«, bemerkte er in einem Brief an Brod. »[E]twas Nutzloseres als ein solcher Kongreß lässt sich schwer ausdenken«. Und in seinem Tagebuch mokierte er sich über »Palästinafahrer«, die »immerfort die Makkabäer im Munde haben und ihnen nachgeraten wollen«.32

      Inmitten der gegensätzlichen kulturellen Strömungen Prags war Kafka wie Brod und seine zionistischen Freunde ständig auf der Hut vor dem allgegenwärtigen Antisemitismus. Sie alle wussten nur zu gut, dass Juden von den Tschechen als Deutsche und von den Deutschen als Juden betrachtet wurden. »Was hatten sie denn getan«, so Theodor Herzl schon 1897, »die kleinen Juden von Prag, die braven Kaufleute des Mittelstandes, die Friedlichen aller friedlichen Bürger? […] Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her – und Deutsche auch.«33

      Brod und Kafka lasen die hasserfüllten judenfeindlichen Artikel in der tschechischen Zeitung Venkov und waren mit den alltäglichen Beleidigungen gegenüber Juden nur allzu vertraut. Als Kafka einmal im Salon Emilie Marschners zu Gast war, der Ehefrau seines Vorgesetzten, bemerkte eine der Damen abschätzig: »Da haben Sie ja auch einen Herrn Juden eingeladen.«34

      Die beiden Prager Schriftsteller unterschieden sich in Temperament und Schicksal, teilten aber die lästige Erfahrung, einer jüdischen Minderheit innerhalb einer deutschsprachigen Minderheit innerhalb einer tschechischen Minderheit innerhalb eines heterogenen österreichisch-ungarischen Kaiserreichs anzugehören, an dem bereits die Zentrifugalkräfte rivalisierender Nationalismen zerrten. Beide bekamen den wachsenden völkischen Antisemitismus, der mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie einherging, am eigenen Leib zu spüren.

      Ende 1897 erlebten Kafka und Brod im Alter von vierzehn Jahren den sogenannten Dezembersturm. Drei Tage lang verwüsteten marodierende Banden Synagogen, plünderten jüdische Geschäfte und überfielen Juden in ihren Häusern. »Auch in meinem Elternhaus splitterten nachts die Scheiben«, schrieb Brod später, »bebend flüchteten wir aus dem gassenwärts gelegenen Kinderzimmer ins Schlafzimmer der Eltern. Ich sehe noch, wie mein Vater die kleine Schwester aus dem Bett hebt – und am Morgen lag wirklich im Bett ein großer Pflasterstein.«35

      Zwei Jahre später, 1899, verfolgte Kafka in der Presse den Fall Leopold Hilsners, eines jungen Juden aus einer böhmischen Kleinstadt, dem der Ritualmord an einem tschechischen Mädchen katholischen Glaubens vorgeworfen wurde. Er las den Augenzeugenbericht seines Freundes Abraham Grünberg von einem Pogrom im Jahr 1906. Und er las in der zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr Berichte über die Beilis-Affäre in Kiew und schrieb, so berichtet Brod, auch eine Erzählung über den berühmt-berüchtigten Blutmordprozess (Kafkas letzte Geliebte Dora Diamant verbrannte den Text auf sein Geheiß). Er war ergriffen von Arnold Zweigs Theaterstück Ritualmord in Ungarn (1914) über die Blutanklage, die als Affäre von Tiszaeszlár bekannt wurde. »Bei einer Stelle mußte ich zu lesen aufhören und mich auf das Kanapee setzen und laut weinen«, schrieb Kafka an Felice Bauer. »Ich habe schon seit Jahren nicht geweint.«36

      In Kafkas unmittelbarer Umgebung probten 1922 Studenten der Deutschen Universität in Prag den Aufstand, als sie ihre Diplome von einem jüdischen Rektor entgegennehmen sollten. Im gleichen Jahr scheiterte Kafka an dem Versuch, eine Rezension der antisemitischen Schrift Secessio Judaica zu verfassen, deren Autor Hans Blüher die »jüdische Mimikry« verurteilte und empfahl, Juden von Deutschen abzusondern.37 Kafka beobachtete den fanatischen Hass und gab sich keinen Illusionen hin. Als etwa der deutsche Außenminister Walther Rathenau, ein Jude, 1922 ermordet wurde, kommentierte Kafka in einem Brief an Brod: »Unbegreiflich, daß man ihn so lange leben ließ«.38

      Während Kafka also den aufwallenden Antisemitismus wachsam beobachtete, führte er mit Bergmann und Brod einen ständigen Dialog über die prekäre Stellung der Juden in Europa. Im Jahr 1920 las er Brods Studie Sozialismus im Zionismus. Anders als seine beiden Freunde suchte Kafka die Lösung dieser Problematik allerdings nicht in der zionistischen Ideologie. »Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß«, schrieb der sechsunddreißigjährige Kafka während eines Pogroms im April 1920 in Prag. »›Prašivé plemeno‹ [räudige Brut] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.«39

      Im September 1916 schrieb Kafka auf einer Postkarte an Felice vom »dunklen Komplex des allgemeinen Judentums, der so vielerlei Undurchdringliches enthält«. Um dieses Undurchdringliche doch zu durchdringen und die Grammatik zu verstehen, in der es formuliert wird, begann Kafka im Jahr 1917 ernsthaft, Hebräisch zu lernen. Wer das jüdische Volk kennenlernen wolle, so hatte auch Hugo Bergmann schon 1904 erklärt, müsse zuallererst seine Sprache lernen.40

      Für seine Hebräischstudien verwendete Kafka ein damals beliebtes Lehrbuch von Moses Rath; außerdem nahm er Konversationsstunden bei seinen Freunden Friedrich Thieberger und Georg (Jiří) Mordechai Langer.41 Langer hatte Kafka 1915 über den gemeinsamen Freund Max Brod kennengelernt. Der homosexuelle Langer hatte im Alter von 19 Jahren seine Familie und damit die Bourgeoisie verlassen und sich einem chassidischen Rebbe angeschlossen. Er verfasste das Buch Die Erotik der Kabbala (1923), das Brod herausgab (und begeistert rezensierte). 1929 schrieb er auf Hebräisch eine Elegie für Kafka. 1941, zwei Jahre vor seinem frühzeitigen Tod, beschrieb Langer, der in der Nähe Brods in Tel Aviv wohnte, die Freude seines Schülers Kafka an der hebräischen Sprache:

      Ja. Kafka sprach Ivrith. In seinen letzten Jahren haben wir die ganze Zeit Ivrith gesprochen. Er, der immer wieder beteuerte, er sei kein Zionist, hat unsere Sprache in erwachsenem Alter und mit großem Fleiß gelernt. Und anders als die Prager Zionisten, sprach er fließend Hebräisch, was ihm eine besondere Befriedigung bereitete, und ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß er insgeheim stolz darauf war.

      Zum Beispiel einmal, als wir in der Straßenbahn fuhren und uns über die Flugzeuge unterhielten, die in diesem Moment über uns am Himmel Prags kreisten, da fragten uns die Tschechen, die mit uns fuhren, als sie die Klänge unserer Sprache hörten, die sie wohl als wohlklingend empfanden, was für eine Sprache wir denn sprechen würden. Und als wir ihnen antworteten, welche Sprache das sei und worüber wir gerade geredet hätten, staunten sie sehr, daß man auf Ivrith sogar über Flugzeuge sprechen könne. […] Wie sehr leuchtete da Kafkas Gesicht vor Freude und Stolz!

      »Kafka war kein Zionist«, fügte Langer hinzu, »aber er beneidete zutiefst jene, die den großen Grundsatz des Zionismus selbst verwirklichten, was schlicht bedeutet, nach Erez Israel einzuwandern. Er war kein Zionist, aber alles, was in unserem Land passierte, bewegte ihn sehr.«42

      Im Jahr 1918 schlug Kafka Brod vor, auf Hebräisch zu korrespondieren. Auch Brod hatte sporadisch versucht, die Sprache zu erlernen. In seiner Autobiografie schreibt er später: »Als braver Zionist habe ich im Ausland immer wieder angefangen, Hebräisch zu lernen. Jahr für Jahr. Immer von vorn. Ich bin aber immer wieder steckengeblieben, bin nur bis zum Hifil gekommen.«43 (Der »Hifil« ist die kausative Verbform im Hebräischen.) Sein Lyrikband Das gelobte Land aus dem Jahr 1917 enthält auch ein Gedicht mit dem Titel »Hebräische Lektion«. Es beginnt mit den Versen:

      Dreißig Jahre alt bin ich geworden,

      Eh ich begann, die Sprache meines Volks zu lernen.

      Da war es mir, als sei ich