Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Balint
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946334545
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Sprache auch auf diesem Gebiet weit überholt«.45

      Trotz seines schlechten Gesundheitszustands nahm Kafka im Herbst 1922 zweimal wöchentlich Hebräischunterricht bei einer neunzehnjährigen Studentin aus Jerusalem. Puah Ben-Tovim – »die kleine Palästinenserin«, wie er sie nannte – wohnte in Prag bei Hugo Bergmanns Mutter zur Untermiete.46 Puahs Eltern waren in den 1880er Jahren mit der Immigrantenwelle aus Russland nach Palästina gekommen. Zehn Jahre lang hatte sie ihrem Vater, einem renommierten Hebraisten, geholfen, den Schülern der ersten Blindenschule Jerusalems vorzulesen. Nach dem Ersten Weltkrieg besuchte sie die erste Abschlussklasse des Hebräischen Gymnasiums in Jerusalem. Noch als Schülerin half sie in ihrer Freizeit Hugo Bergmann in der Nationalbibliothek bei der Katalogisierung der deutschen Bücher.

      »Manchmal hatte er während einer Stunde einen schmerzhaften Hustenanfall, so daß ich den Unterricht abbrechen wollte«, erzählte Puah Ben-Tovim später. »Dann schaute er mich an, er konnte nicht sprechen, flehte mich aber mit seinen großen dunklen Augen an, zu bleiben und ihm noch ein Wort zu sagen, und dann noch eins und noch eins. Es war beinahe so, als ob er sich von dem Unterricht eine Art Wunderheilung erwartete.«47

      Mit Puahs Hilfe füllte Kafka in einer geschwungenen kindlichen Schrift Vokabelhefte mit hebräischen Wörtern und ihren deutschen Entsprechungen: faschistische Bewegung, Tuberkulose, Heiligkeit, Sieg, Genie. Er hielt auch hebräische Redewendungen fest. (Ich konnte mir in der Nationalbibliothek in Jerusalem ein 18 Seiten starkes Heft ansehen, dem früheren Direktor des Handschriften- und Archivabteilung Raphael Weiser zufolge ein Geschenk der Familie Schocken.)

      »Er fühlte sich unstreitig von mir angezogen, aber eher von einem Ideal als von dem realen Mädchen, das ich war, und zwar von dem Bild des fernen Jerusalem, über das er mich unentwegt ausfragte und wohin er mich bei meiner Rückkehr begleiten wollte. Er hing an mir, weil ich der erste ›hebräisch sprechende Vogel‹ war, der aus Palästina kam, weil ich eine Vertreterin jener Juden war, die nicht in Angst vor Pogromen und Demütigungen leben mußten. […] Der Wunsch, mit mir nach Jerusalem zurückzukehren, bestand trotz der Schwere seines Leidens noch immer«, so Puah Ben-Tovim. »Mir wurde schnell klar, daß er sich emotionell in der Lage eines Ertrinkenden befand, der wild um sich schlägt und sich an alles festklammert, was in seine Nähe kommt.«48

      Doch Kafka, für den das Fremdsein an der Wurzel seines Schaffens stand, entzog sich allen Angeboten einer kollektiven Zugehörigkeit. »Zum Zionismus hingezogen fühlte er sich wegen seiner Sehnsucht nach Zugehörigkeit und nach Selbstsicherheit, die mit einer solchen Zugehörigkeit einhergeht«, so Vivian Liska, Professorin für deutsche Literatur und Direktorin des Instituts für Jüdische Studien an der Universität Antwerpen. »Doch seine Angst vor der Auflösung des Ich in der Gruppe verhinderte, dass er sich vollständig an sie band.« Der Kafka-Experte Hans Dieter Zimmermann formuliert knapp und deutlich, Kafka sei jedenfalls »nicht Zionist« gewesen, sondern »›zügelloser‹ Individualist, wie er einmal schreibt.«49

      Im Jahr 1922 schlug Brod Kafka vor, als Redakteur der zionistischen Monatszeitschrift Der Jude anzufangen, die Martin Buber herausgab und Salman Schocken finanzierte und in der Kafka fünf Jahre zuvor die Erzählungen »Ein Bericht für eine Akademie« und »Schakale und Araber« veröffentlicht hatte. (Im Juni 1916 hatte Brod an Buber geschrieben, Kafka sei aufgrund seiner tiefen Sehnsucht nach Gemeinschaft, seinem Wunsch, der tiefen Einsamkeit zu entfliehen, der »jüdischeste« Dichter von allen.50)

      Kafka lehnte das Angebot ab, allerdings nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, aus gesundheitlichen Gründen. »Wie dürfte ich bei meiner grenzenlosen Unkenntnis der Dinge, völligen Beziehungslosigkeit zu Menschen, bei dem Mangel jedes festen jüdischen Bodens unter den Füßen an etwas derartiges denken?«, schrieb er zurück. »Nein, nein.«51

      Das Gelobte Land und die gelobte Gemeinschaft lagen in gleichermaßen unerreichbarer Ferne. Was sei das Hebräische anderes, schrieb Kafka seinem tuberkulosekranken Mitpatienten Robert Klopstock 1923, als »Nachrichten aus der Ferne«?52

      In seinem letzten Lebensjahr zog Kafka endlich aus der Wohnung seiner Eltern aus und entfloh ihrem Einfluss. Von September 1923 bis März 1924 wohnte er »halb ländlich«, wie er an Brod schrieb, in Steglitz am Stadtrand von Berlin. Er lebte mit Dora Diamant zusammen, die fünfzehn Jahre jünger war als er und mit der orthodoxen Religion ihrer streng chassidischen Familie gebrochen hatte. »Der reiche Schatz ostjüdischer religiöser Tradition, über den Dora verfügte, war für Franz eine stete Quelle des Entzückens«, schreibt Brod in seiner Kafka-Biografie. Bis zum Januar 1924, als sich Kafkas Gesundheitszustand verschlechterte, besuchten Dora und Kafka Talmudkurse an der Hochschule für jüdische Wissenschaft in der Artilleriestraße (heute Leo-Baeck-Haus); Kafka nannte die Hochschule einen »Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern«.53

      Dora las mit Kafka auch die ersten drei Kapitel von Josef Chaim Brenners düsterem letzten, nicht auf Deutsch erschienenen Roman Zerfall und Verlust im hebräischen Original, immer eine Seite am Tag. Das war eine bemerkenswerte Lektüreentscheidung, immerhin wurde dieser Roman einmal als »brutalste Selbstkasteiung der hebräischen Literatur« bezeichnet. Brenner, dem tragischen Rationalisten der hebräischen Literatur zufolge war das Exil (Galut) überall und auch das Land Israel nur wieder eine Diaspora. »Als Roman freut mich übrigens das Buch nicht sehr«, kommentierte Kafka in einem Brief an Brod.54

      Dora Diamant habe ihm von Kafkas Absicht erzählt, »nach Palästina zu übersiedeln, wenn er gesund würde«, schreibt Brod in seiner Kafka-Biografie.55 Das Paar malte sich aus, in Tel Aviv ein Restaurant zu eröffnen. Dora sollte kochen, Kafka bedienen; so konnte er Menschen beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden. (In dem achtzehnseitigen handschriftlichen Vokabelheft führt er auch das hebräische Wort für Ober auf, meltzar.) Doch der Traum von Zion blieb unerfüllt. Den Gedanken an eine Übersiedelung nach Palästina ließ Kafka erst zu, als seine fortgeschrittene Krankheit sie unmöglich machte.

      Im Juli 1923 appellierten Hugo Bergmann und seine Frau Else ein letztes Mal an Kafka, mit ihnen nach Jerusalem zu kommen. »Und wieder fängt die Lockung an und wieder antwortet die absolute Unmöglichkeit«, schrieb Kafka an Else Bergmann.56 So verließen die Bergmanns Prag lediglich mit einem Porträt Kafkas, das sie nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem in ihrem Salon aufs Klavier stellten.

      Als sich die Tuberkulose verschlimmerte und Kafkas Kräfte schwanden, grübelte er über die vielen Anfänge in seinem Leben nach, die nun unvollendet bleiben sollten. »Es war nicht die geringste sich irgendwie bewährende Lebensführung von meiner Seite da«, notierte er in seinem Tagebuch. »Statt dessen habe ich immerfort einen Anlauf zum Radius genommen, aber immer wieder gleich ihn abbrechen müssen (Beispiel: Klavier, Violine, Sprachen, Germanistik, Antizionismus, Zionismus, Hebräisch, Gärtnerei, Tischlerei, Litteratur, Heiratsversuche, eigene Wohnung.«)Felice, Julie, Milena und in gewisser Weise selbst Dora hatte Kafka aus Furcht vor dem Ehestand aus der Ferne geliebt. In einem Brief an Brod räumte er 1921 ein: »Ich kann offenbar […] nur das lieben, was ich so hoch über mich stellen kann, daß es mir unerreichbar wird.« Auch Palästina und die hebräische Sprache, die dort wiederbelebt wurde, blieben für ihn in unerreichbarer Ferne. Die Ehe und das Gelobte Land: zwei Formen des Glücks, verschoben, ersehnt, aber nie erlangt.57

      Eva Hoffe meinte, es sei so vielleicht am besten gewesen. In der drückenden Schwüle eines Sommernachmittags in Tel Aviv spazierten wir durch die Dubnow-Straße. Sie trug ein T-Shirt, das mit einem bunten Porträt Marilyn Monroes bedruckt war, und einen weiten Rock. In drei Plastiktüten hatte sie Fotos und Dokumente bei sich, die sie mir zeigen wollte, unter anderem ihre Geburtsurkunde und ihren tschechischen Pass. »Ich bin zwar Israeli und Jüdin«, sagte sie, »aber ich kann nicht behaupten, dass ich dieses Land liebe.«

      Ich erwähnte, was Brod in einem Interview mit der israelischen Zeitung Ma’ariv im Oktober 1960 gesagt hatte: »Wäre Kafka in das Land Israel gelangt, so hätte er geniale Werke auf Hebräisch geschaffen!« Die jüdisch-amerikanische Schriftstellerin Nicole Krauss, fügte ich hinzu, habe in ihrem Roman Waldes Dunkel eine Art Gegenleben für Franz Kafka entworfen, ein »Was wäre, wenn«: Sie lässt einen greisen Literaturwissenschaftler behaupten,