Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Balint
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946334545
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benannt war. Wenn in einem bestimmten Café die Decke einbräche, so erzählte man sich scherzhaft, wäre die gesamte zionistische Bewegung Prags mit einem Schlag ausgelöscht. So klein die Bewegung zahlenmäßig auch gewesen sein mag, hatte sie mit ihrer Mischung aus Zionismus und Sozialismus dennoch eine solche Sogwirkung, dass die Zionisten nach 1918 sogar zwei Sitze im Prager Stadtrat eroberten. Brod erklärt das so:

      Dazu kam aber als fester Tatbestand etwas sehr Eigentümliches, Seltenes: das Faktum, daß sich als Anreger und Hauptorganisatoren der zionistischen Strömung junge Männer von einzigartiger Reinheit des Charakters und von intensivster Geistigkeit zusammengefunden hatten, eine Gruppe von leuchtender Vorbildlichkeit, wie ich sie in meinem weiteren Leben nie wieder angetroffen habe – nur eben im Prag jener stürmischen und erwartungsvollen Jahre. Der Studentenverein Bar-Kochba war die Kristallisationsmitte. […] Viele unter uns waren Sozialisten. Andere übten Buße und Umkehr in einsamen Zonen. Doch was uns alle einte, war die Überzeugung, daß unsere Arbeit durch persönliche Opfer und Taten, durch ein von Grund auf verändertes Leben jedes einzelnen geschehen müsse. Nicht durch Leitartikel, nicht durch Agitationsreden, sondern in stillem Bemühen, im engsten Kreise des Volkes. Also in erster Linie auf eine Versittlichung der erniedrigten, gelästerten, durch die Diaspora auch in der Tat vielfach verderbten jüdischen Gemeinschaft hinzielend – und daher auch universal-sittlich in der Tendenz, der ganzen Menschheit zum Heile gereichend, eine echte Brüderschaft, die zwischen den entsühnten Völkern zu stiften war. – Der jüdische Staat, den wir »drüben«, in Palästina, vorbereiteten, sollte auf Gerechtigkeit und selbstloser Liebe jedes einzelnen zu jedem einzelnen begründet sein und selbstverständlich unseren nächsten Nachbarn, den Arabern, Freundschaft und Hilfe bringen, Rettung aus ihrer demütigenden materiellen Not.9

      Vor 1909 hatte sich Brod nicht weiter für die zionistische Begeisterung des Bar-Kochba-Vereins interessiert. Bis 1905 hatte er nach eigener Aussage noch nie von Theodor Herzl gehört, dem Gründervater des politischen Zionismus; als er Herzls Porträt an der Wand von Hugo Bergmanns Wohnzimmer im Prager Vorort Podbaba zum ersten Mal sah, fragte er: »Wer ist denn das?«10

      Doch im Jahr 1909 begann er, der Bedeutung der jüdischen Identität und den damit einhergehenden moralischen Verpflichtungen auf den Grund zu gehen. Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 wurde Brod Ehrenmitglied (»Alter Herr«) des Bar-Kochba-Vereins und Zweiter Vorsitzender des Jüdischen Nationalrats. In der neu ausgerufenen Republik entwickelte er sich zu einem wichtigen Sprachrohr der tschechischen Juden und trug in Verhandlungen entscheidend zu den beträchtlichen Autonomiezugeständnissen Präsident Masaryks bei. Befeuert habe seinen selbstlosen Einsatz für den Zionismus, so Brod, ein Satz aus Kafkas Kurzgeschichte »Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse«:

      [A]ber das Volk, ruhig, ohne sichtbare Enttäuschung, herrisch, eine in sich ruhende Masse, die förmlich, auch wenn der Anschein dagegen spricht, Geschenke nur geben, niemals empfangen kann, auch von Josefine nicht, dieses Volk zieht weiter seines Weges.11

      Kafkas Erzähler zufolge ist Josefine »eine kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres Volkes«. Und er fügt hinzu, dass das Volk der Mäuse »sich noch immer irgendwie selbst gerettet hat, sei es auch unter Opfern, über die der Geschichtsforscher […] vor Schrecken erstarrt«.

      Mit seiner Hinwendung zum Kulturzionismus wollte Brod nicht nur ein neues Verhältnis zum jüdischen Volk entwickeln. Er kritisierte auch, dass die neuen Nationalstaaten die kollektive Identität von Minderheiten aushöhlten. »Für mich«, schrieb er in der zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr, »unterliegt es keinem Zweifel, dass ein ›Jüdisch-Nationaler‹ kein ›Nationaler‹ im heute üblichen Sinne des Wortes sein darf. Es ist die Sendung der jüdischen Nationalbewegung, des Zionismus, dem Worte ›Nation‹ einen neuen Sinn zu geben.«12 Die Erneuerung des Judentums – und die Wiederbelebung der hebräischen Sprache – könne nur gelingen, wenn sie im Land Israel verwurzelt sei. 1924 schrieb Brod an die in Prag geborene Schriftstellerin Auguste Hauschner: »Vor allem das eine: Der jüdische Nationalismus darf nicht eine neue chauvinistische Nation schaffen, sondern soll nur der versöhnenden, allmenschlichen, heute degenerierten Genialität des Juden eine Gesundung, der messianischen Richtung eine reale Unterlage schaffen.«13

      Der mit dem Zerfall der Habsburger Dynastie aufkommende Nationalismus gab Brods Mission eine neue Dringlichkeit. »Der Jude, der es mit dem nationalen Problem ernst meint, bewegt sich heute in folgendem Paradox«, so Brod. »Er muß den Nationalismus bekämpfen zu Gunsten einer allmenschlichen Verbrüderung […] und er muß zugleich mitten in der jungen jüdischen Nationalbewegung stehen.«14

      Während des Ersten Weltkriegs gab Brod Kurse zur Weltliteratur für junge Jüdinnen, die vor dem Krieg aus Osteuropa geflohen waren. Die Tätigkeit sei sein »einziger Trost in dieser entgeistigten Zeit«, schreibt er 1916 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Der Jude. »Eine bezaubernde Frische und Naivität geht von den Mädchen aus. Und dennoch sind sie durchaus geistig«, urteilte er. Einen Monat später verglich er in einem weiteren Aufsatz seine Studentinnen mit den oberflächlicheren »Westjüdinnen« und kam zu dem Schluss, »daß die galizischen Mädchen in ihrer Gesamtheit um so viel frischer und im Geiste wesenhafter, gesünder sind als unsere Mädchen«.15

      Die wachsende Bedeutung des Judentums in seinem Leben rechtfertigte Brod 1921 in seiner Abhandlung Heidentum, Christentum, Judentum. In seinem Opus – ob nun magnum oder nicht – unterscheidet er zwischen drei Haltungen zum Diesseits: die Diesseitsbejahung (Heidentum), die Ablehnung der sündigen Welt zugunsten des »Jenseits« (das Christentum mit dem Grundsatz »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«) und schließlich die Überzeugung, dass diese unvollkommene Welt Erlösung finden kann (Judentum). Diese dritte Haltung bezeichnet Brod als »Diesseitswunder«. Robert Weltsch resümiert später, für Max Brod sei »das Heidentum die Religion des Diesseits, des menschlichen Lebens in dieser Welt, das alles ignoriert, was die sinnliche Erfahrung übersteigt. Das Christentum ist die Religion des Jenseits. Das Judentum […] ist die Religion, die beide Welten berücksichtigt und an die Gleichzeitigkeit von Gnade und Freiheit glaubt.«16

      Brod, den Sinnlichkeit und Spiritualität gleichermaßen anzogen, wählte das Judentum. Und diese Wahl umfasste auch den Zionismus. »Der Zionismus baut der jüdischen Religiosität ihren Körper, den sie verloren hatte«, schrieb Brod auf den letzten Seiten von Heidentum, Christentum, Judentum. Der Zionismus bot ihm einen Rückzugsort vor dem Neuheidentum, das Europa zu verschlingen drohte – »der Triumph der heidnischen Bestie« –, und sollte ihm später das Leben retten.17

      Am 13. August 1912 kam Kafka eine Stunde später als verabredet in Brods Wohnung in der Skořepka-Straße. Brod wollte für seine erste Veröffentlichung Betrachtungen die endgültige Reihenfolge der Texte mit ihm besprechen. Kaum hatte Kafka die Wohnung betreten, fiel sein Blick auf eine Vierundzwanzigjährige, eine entfernte Verwandte Brods, die bei ihm am Tisch saß. »Freier Hals. Übergeworfene Bluse«, notierte er in sein Tagebuch. »Sah ganz häuslich angezogen aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war. (Ich entfremde ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr so nahe an den Leib gehe. […]) Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil.«18

      Die beiden kamen ins Gespräch, und die junge Frau erzählte, sie arbeite in der Berliner Firma Carl Lindström AG, deren neuartiges Diktiergerät sie vermarktete. Außerdem erwähnte sie, dass sie Hebräisch lerne. »Nun hatte sich also auch herausgestellt, daß Sie Zionistin wären und das war mir sehr recht«, schrieb ihr Kafka später.19 Er war so frei, für den folgenden Sommer eine gemeinsame Palästinareise vorzuschlagen. Sie willigte ein und gab ihm die Hand darauf. In der Jackentasche hatte Kafka an jenem Abend die August-Ausgabe der Zeitschrift Palästina, die in deutscher Übersetzung einen Aufsatz des Kulturzionisten Achad Ha’am über seinen jüngsten Besuch in Palästina enthielt. Kafka notierte die Berliner Adresse der jungen Frau auf der Titelseite, ehe er sie in ihr Hotel Zum blauen Stern begleitete (dasselbe, in dem Bismarck 1866 den Friedensvertrag zwischen dem Königreich Preußen und dem Kaisertum Österreich unterzeichnet