Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Balint
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946334545
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aus seiner Korrespondenz mit Felice und umgekehrt) wirbt Kafka in den folgenden fünf Jahren um Felices Liebe, die ihn dann aber dermaßen erdrückt, dass er sich zurückzieht. Er liebt sie und er flieht sie. Getrennt durch eine sechsstündige Zugfahrt zwischen Prag und Berlin, verloben sich die beiden zweimal und trennen sich zweimal.

      Kafkas ambivalente Haltung zum Zionismus lässt sich als Subtext seiner Ambivalenz gegenüber Felice – und anderen Frauen, die er aus der Distanz liebt – lesen; als seien Zionismus und Ehe für ihn, der an einer lähmenden »Wir-Schwäche« litt, zwei Aspekte eines Gedankens, zwei Ausdrucksformen des »Wir«. Als hätte er diesen Subtext gespürt, schenkte Brod Kafka und Felice Bauer anlässlich ihrer ersten Verlobung Richard Lichtheims Buch Das Programm des Zionismus (1911).20 Doch Kafkas Ambivalenz verstärkte sich mit der Zeit nur. In einem Brief an Felices gute Freundin Grete Bloch gestand er 1914, »ich bewundere den Zionismus und ekle mich vor ihm«.21

      Kafka setzte nie einen Fuß auf palästinensischen Boden, doch in seinem ersten Brief an Felice, drei Wochen nach ihrer ersten Begegnung in Brods Wohnung, griff er für seinen Annäherungsversuch auf die Palästina-Fantasie zurück:

      Für den leicht möglichen Fall, daß Sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr erinnern können, stelle ich mich noch einmal vor: Ich heiße Franz Kafka und bin der Mensch, der Sie zum erstenmal am Abend beim Herrn Direktor Brod in Prag begrüßte, Ihnen dann über den Tisch Photographien von einer Thaliareise, eine nach der andern, reichte und der schließlich in dieser Hand, mit der er jetzt die Tasten schlägt, Ihre Hand hielt, mit der Sie das Versprechen bekräftigten, im nächsten Jahr eine Palästinareise mit ihm machen zu wollen.22

      Dieses Versprechen setzte in Kafka etwas frei. In der Nacht zum Jom-Kippur-Fest, zwei Tage nach dem Brief an Felice, schrieb er in einem ekstatischen Lauf von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens die Erzählung »Das Urteil«, die den eigentlichen Beginn seines Schriftstellerdaseins markiert. Er widmete die Erzählung Felice.

      Für Kafka sei Palästina »das bildliche Anderswo, wo Liebende hingehen, eine offene Zukunft, der Name für ein unbekanntes Ziel«, so Judith Butler, Professorin an der University of California in Berkeley. In ihrer Korrespondenz setzte Kafka Felice innerlich mit diesem Anderswo gleich. Im Februar 1913 schrieb er ihr, er habe zufällig einen Bekannten getroffen, einen jungen Zionisten, der ihn zu einer wichtigen zionistischen Zusammenkunft einlud. »[M]eine Gleichgültigkeit hinsichtlich seiner Person und jeden Zionismus war in dem Augenblick grenzenlos und unausdrückbar, aber ich fand […] keine gesellschaftlich durchführbare Möglichkeit des Abschieds […] und bot mich nur aus diesem Grunde an, ihn zu begleiten und begleitete ihn tatsächlich bis zur Tür jenes Kaffeehauses«, schrieb er. »Hineinziehen ließ ich mich aber nicht mehr«. Es war, als verharre Kafka in seinem Verhältnis zu Felice wie auch zum jüdischen Nationalbestreben – und zu seinem eigenen Schreiben – auf der Schwelle zur Vollendung.23

      Besonders drastisch kommt dies in Kafkas später, nicht abgeschlossener Erzählung »Der Bau« zum Ausdruck (der Titel stammt von Brod), die er im Winter 1923 verfasste. Darin widmet ein einsames dachsähnliches Tier sein Leben dem Bau einer ausgeklügelten unterirdischen Festung, mit der es sich vollständig identifiziert: »[D]ie Empfindlichkeit des Baues hat mich empfindlich gemacht«, erklärt das Tier.24 Doch es bewohnt sein gut geschütztes Refugium gar nicht, sondern hält draußen vor dem Bau Wache:

      Es ging so weit, daß ich manchmal den kindischen Wunsch bekam überhaupt nicht mehr in den Bau zurückzukehren sondern hier in der Nähe des Eingangs mich einzurichten, mein Leben in der Beobachtung des Eingangs zu verbringen und immerfort mir vor Augen zu halten und darin mein Glück zu finden, wie fest mich der Bau, wäre ich darin, zu sichern imstande wäre.25

      Nachdem er seine Verlobung mit Felice zum zweiten Mal gelöst hatte, verknüpfte Kafka dieses Bild – »in der Nähe des Eingangs« zum Zionismus – auch mit späteren Geliebten. Im Jahr 1919 lernte er Julie Wohryzek kennen, mit der er sich kurz darauf verlobte. Julie war die einfache Tochter eines verarmten Schusters und Synagogendieners. In einem Brief an Brod bezeichnete Kafka sie als »Besitzerin einer unerschöpflichen und unaufhaltbaren Menge der frechsten Jargonausdrücke«. (Weder ihre Herkunft noch ihr Jiddisch sagten Kafkas Vater zu, der sie als déclassé ablehnte.) Julie, deren erster Verlobter, ein junger Zionist, in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gefallen war, hatte Brods Vorträge über den Zionismus besucht. Kurz nachdem Kafka Julie kennengelernt hatte, bat er Brod, ihr seinen Aufsatz »Die dritte Phase des Zionismus« aus dem Jahr 1917 zuzuschicken.26

      Dank Brod war Kafka, schon bevor er Felice kennenlernte, zumindest flüchtig mit zionistischen Kreisen in Berührung gekommen. Im Jahr 1910 besuchte er mit Brod zum ersten Mal Zusammenkünfte und Vorträge im Studentenverein Bar Kochba. Anders als Theodor Herzl interessierte man sich bei Bar Kochba mehr für eine Wiederbelebung der jüdischen Kultur als für die politische Verwirklichung eines jüdischen Staates. Die Mitglieder verstanden den Zionismus nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel für eine geistige Erneuerung. Darauf bezieht sich Kafka im August 1916, als er auf einer Postkarte an Felice vermerkt: »Der Zionismus, wenigstens in einem äußern Zipfel, den meisten lebenden Juden erreichbar, ist nur der Eingang zu dem Wichtigern.«27

      Kafkas Auseinandersetzung mit dem Thema hatte jedoch schon Jahre zuvor mit seinem Freund Hugo Bergmann begonnen, der 1899 sechzehnjährig dem Bar-Kochba-Verein beigetreten und mit achtzehn zu dessen Vorsitzendem gewählt worden war. Im Jahr 1902 brachte der neunzehnjährige Kafka sein Befremden über das Engagement seines Freundes für den Zionismus zum Ausdruck. Bergmann erwiderte:

      In deinem Brief fehlt natürlich wieder nicht der obligate Spott über meinen Zionismus. Fast sollte ich schon aufhören, mich darüber zu wundern. Und doch immer und immer wieder muß ich mich darüber wundern, warum Du, der Du, wenn nicht mehr, doch solange mein Schulkamerad warst, meinen Zionismus nicht verstehst. Wenn ich einen Irren vor mir sähe, und er hätte eine fixe Idee, ich würde nicht lachen über ihn, denn ihm ist seine Idee ein Stück Leben. Mein Zionismus ist für dich auch nur eine »fixe Idee« von mir. [A]llein wie Du zu stehen, dazu hatte ich die Kraft nicht.28

      Bergmann siedelte 1920 nach Palästina über, wo er die Leitung der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem übernahm. Unter seiner Ägide wurde aus der Institution laut Brod »die größte und reichhaltigste, modernste Bibliothek des Mittelostens«. Später wurde Bergmann Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem. Kafka verfolgte seine Karriere mit großem Interesse. Als Bergmann 1923 nach Prag zurückkehrte, um im zionistischen Club Keren Hajessod einen Vortrag zu halten, sagte Kafka, wie Brod später berichtete, nach der Veranstaltung zu Bergmann: »Diesen Vortrag hast du nur für mich gehalten.«29

      Wir können davon ausgehen, dass Bergmann Kafka von den Ursprüngen der Jerusalemer Bibliothek erzählte. Im Jahr 1872 hatte ein gewisser Rabbi Joshua Heschel Lewin aus Waloschyn in der ersten hebräischen Wochenzeitung Jerusalems Ha-Chawazelet gefordert, »eine Bibliothek zu gründen, die ein Zentrum werden soll und in der die Bücher unseres Volkes gesammelt werden – nicht eines darf fehlen«. Mit Unterstützung des britischen Mäzens und Philanthropen Sir Moses Montefiore wurden Spenden gesammelt und Vorstandsmitglieder verpflichtet, unter ihnen Elieser Ben-Jehuda, Vater der modernen hebräischen Sprache. Im Jahr 1905 kam die Bibliothek unter die Schirmherrschaft des Zionistischen Kongresses in Basel. Doch die Zeit war noch nicht reif: Eine Nationalbibliothek braucht per definitionem eine Nation mit einem Land und einer Sprache.

      Im Studentenverein Bar Kochba hörte Kafka im Januar 1912 auch einen Vortrag Nathan Birnbaums über jiddische Volkslieder; der Wiener Schriftsteller, damals 47 Jahre alt, hatte den Begriff »Zionismus« zwanzig Jahre zuvor geprägt. Kafka lauschte »Birnbaums Vortrag mit größter Spannung«, so Reiner Stach.30 Unter den Zionisten, deren Vorträge er beim Bar-Kochba-Verein besuchte, waren Felix Salten (der später das Kinderbuch Bambi verfasste), der Generalsekretär des zionistischen Weltverbandes Kurt Blumenfeld und der einflussreiche Kulturzionist Davis Trietsch, Mitbegründer des Jüdischen Verlags und Herausgeber der Zeitschrift Palästina, der über jüdische Kolonien im Land referierte.

      Im September 1913 befand sich Kafka unter den rund zehntausend Besuchern des elften Zionistischen Weltkongresses