Es hat uns [Raabe und seine Frau] sehr bewegt, Sie in Tel-Aviv wiederzusehen. Ich habe auch Ihre Hilflosigkeit gefühlt, ich hatte Ihnen deshalb spontan meine Dienste angeboten. […] Wie gerne hätte ich mit Ihnen wieder zusammengearbeitet, und wie gern hätte ich Ihnen bei all Ihren Problemen zur Seite gestanden. Aber wenn Sie alle Welt verärgern, werden Sie in Kürze ganz allein dastehen. Das ist nicht nur für Sie schlimm, sondern auch für das Andenken an Max Brod und an Kafka katastrophal.
Es tut mir leid, daß ich Ihnen so offen schreibe und schreiben muß, doch sie sollten meine Enttäuschung wissen, da ich zu Max Brods Verehrern gehöre und wir, liebe Frau Hoffe, immer in einer engen persönlichen Beziehung gestanden haben.
In einem zweiten Brief fügte Raabe etwas später hinzu:
Nun sehe ich, daß die Verhandlungen gescheitert sind, und ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich darüber sehr traurig bin. Sie haben damit wohl die letzte Gelegenheit vertan, zu Ihren Lebzeiten die Papiere von Max Brod so unterzubringen, wie er es sich sicherlich in seinem Leben gewünscht hat, aber ja leider in seinem Testament nicht eindeutig verfügte. Nun werden auch diese Papiere eines Tages sowie die Papiere von Franz Kafka zum Spielball persönlicher Interessen, und dies hat Ihr guter Max Brod nicht verdient.3
Es sei durchaus keine Seltenheit, schrieb Henry James 1914 an seinen Neffen, dass der Verwalter eines literarischen Nachlasses dessen Nutzung ganz und gar vereitele. In Raabes Augen hatte auch Ester Hoffe ihre Pflicht als Hüterin des Andenkens und der Arbeit von Max Brod verletzt. Wie T. S. Eliots Witwe Valerie, die vor ihrer Heirat acht Jahre lang Sekretärin des Dichters gewesen war, und wie Ted Hughes, Nachlassverwalter für das literarische Werk von Sylvia Plath nach ihrem Selbstmord 1963, hatte auch Ester Hoffe ihr Vetorecht missbraucht und Biografen und Forscher abgewimmelt. Aus lauter Besitzgier und Eifersucht drohte sie genau das Andenken zu beschädigen, dessen Schutz ihr anvertraut worden war. So zumindest sah es Raabe.
Aber stimmte das auch? Behinderte Ester Hoffe in ihrer Habsucht die Forschung? Eva Hoffe betont, dass ihre Mutter Ende der siebziger und in den achtziger Jahren angesehenen Kafka-Forschern sehr wohl erlaubt habe, die Papiere einzusehen. »Dass wir Forschern den Zugang zu dem Material verweigert haben, ist eine Lüge«, sagte sie im Gespräch mit mir. Es ist wahr, dass Ester Hoffe dem Patriarchen des Suhrkamp Verlags, Siegfried Unseld, das Manuskript von Kafkas »Beschreibung eines Kampfes« verkaufte.4 Auch übertrug sie dem S. Fischer Verlag das Recht, Fotokopien von Der Prozess, Kafkas Briefen an Brod und den Reisetagebüchern Kafkas und Brods für die Kritische Ausgabe zu verwenden, an der Malcolm Pasley von der Universität Oxford damals arbeitete. Für diese Rechte erhielt Ester Hoffe 100.000 Schweizer Franken und aus der Startauflage fünf Exemplare jedes Bandes. Sie muss auch den deutschen Herausgebern von Walter Benjamins Gesammelten Werken Einblick gewährt haben; die Originale einiger Briefe Benjamins an Brod, die dort abgedruckt sind, wurden später in Ester Hoffes Nachlass gefunden.
Wie vor ihm Raabe äußert auch Reiner Stach in seiner maßgeblichen dreibändigen Kafka-Biografie seinen Missmut: »Diese unbefriedigende Situation würde sich zweifellos entscheidend bessern, wenn mit dem Nachlass des langjährigen Freundes Max Brod eine literaturhistorisch erstrangige und keineswegs nur im Zusammenhang mit Kafka bedeutsame Quelle endlich der Forschung zugänglich würde.«5 Ich bat Stach, dies näher zu erläutern.
In den 1970er Jahren machte Ester Hoffe die Papiere in ihrer Wohnung einigen Forschern zugänglich, unter ihnen Margarita Pazi [die sich mit deutsch-jüdischer Literatur und auch mit Brod befasste] und Paul Raabe; sie erhielten aber nicht die Gelegenheit, »systematisch« damit zu arbeiten. Deshalb zitierten sie in ihren Aufsätzen und Büchern auch nie daraus. Die einzige Ausnahme war (soweit ich weiß) Joachim Unseld [Siegfried Unselds Sohn]: Er kaufte ein Kafka-Manuskript und erhielt anschließend die Erlaubnis, einige Briefe Max Brods zu kopieren.
Malcolm Pasley erhielt Zugang zu den Safes, weil der S. Fischer Verlag viel Geld für Kopien der Kafka-Manuskripte zahlte, die er für die Kritische Ausgabe brauchte. Er erhielt keinen Zugang zu den Papieren in der Wohnung, obwohl das für den Kommentar sehr wichtig gewesen wäre.
Hans-Gerd Koch, der seit etwa 1990 am Kommentar arbeitet, erhielt nie Einsicht in die Papiere in der Wohnung, obwohl es auch für ihn und die Ausgabe sehr wichtig gewesen wäre.6
Aus eben diesem Grund schrieb Stach den chronologisch ersten Band über Kafkas frühe Jahre als letzten. Seine amerikanische Übersetzerin Shelley Frisch erklärt in ihrem Vorwort zur englischen Ausgabe:
Diese Reihenfolge, die auf den ersten Blick abwegig, ja geradezu »kafkaesk« anmutet, wurde von der gerichtlichen Auseinandersetzung um Max Brods literarischen Nachlass in Israel erzwungen; in dieser Zeit erhielten Forscher keinen Einblick in die Materialien, von denen sich viele unmittelbar auf Kafkas Entwicklungsjahre bezogen.
Als Stach 2013 für seinen Band Kafka: Die frühen Jahre recherchierte, bat er nach eigener Aussage »Eva Hoffe in einem ausführlichen Brief, mir nur einige von Brods frühen Tagebüchern zu zeigen«. Sie lehnte ab. Eva Hoffe bestätigte mir das. »Ich erklärte ihm, dass mir die Hände gebunden seien«, sagte sie, »und dass ich die Schlüssel zu den Schließfächern nicht mehr hätte.«
Meir Heller vermischte vor Gericht von Anfang an juristische Argumente und ideologische Erwägungen, unterstützt von einem Chor israelischer Beobachter, die Kafkas rechtmäßigen Platz in einer israelischen Einrichtung sahen. So erklärte der Kafka-Forscher Mark Gelber, Professor an der Ben-Gurion-Universität, gegenüber der New York Times, Kafkas »enges Verhältnis zum Zionismus und den Juden« untermauere den Anspruch, seine lange verschollenen Schriften in Israel zu belassen.
Die Entscheidung, Ester Hoffes Testament anzufechten, machte Beobachter in Deutschland ebenso fassungslos wie Eva Hoffe. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hatte mit ihr darüber verhandelt, den Brod-Nachlass einschließlich Kafkas Schriften zu erwerben. Das Literaturarchiv meldete sich als interessierte Partei beim Gericht und bekräftigte Eva Hoffes Anrecht auf die Manuskripte. Das Marbacher Literaturarchiv, das weltweit größte für moderne deutsche Literatur, ist für Deutschland mehr oder weniger, was die Nationalbibliothek für Israel darstellt. Finanziert wird es vom Land Baden-Württemberg, vom Bund und von Drittmitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (deren Gelder wiederum überwiegend vom Bund kommen).
Anders als die Israelische Nationalbibliothek erhob Marbach keinen Anspruch auf die Manuskripte; man wollte lediglich das Recht erhalten, dafür zu bieten. Die Forderung Israels wirkte auf die Marbacher daher wie ein verzweifeltes, wenn auch cleveres Manöver. Wenn man dem Markt freien Lauf ließe, so argumentierten sie, würde Hoffe die Manuskripte nach Deutschland verkaufen.
Als die Spannungen zunahmen, bestätigte der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Ulrich Raulff Eva Hoffe brieflich, ihre Mutter Ester habe »mehrfach die Absicht geäußert, den Nachlass von Max Brod nach Marbach zu geben«. Raulff lobte die »modernsten Möglichkeiten der fachgerechten Lagerung und Verzeichnung« wie auch das Fachpersonal für Konservierung, Restaurierung, Entsäuerung und Digitalisierung und brachte seinen Wunsch zum Ausdruck, Kafkas Manuskripte in die Nachlässe der mehr als 1400 Schriftsteller im Marbacher Archiv einzureihen, die in speziellen Lagerräumen bei konstant 18 bis 19 Grad Celsius und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 50 bis 55 Prozent aufbewahrt würden.7 Unter anderem lagerten dort das Helen und Kurt Wolff-Archiv mit den Nachlässen von mehr als zweihundert Schriftstellern und Gelehrten, die vom NS-Regime verfolgt worden und ins Exil gegangen waren.8 Raulff fügte hinzu, dass Marbach bereits die nach Oxford weltweit zweitgrößte Sammlung von Kafka-Manuskripten beherberge.9
»Die Israelis sind anscheinend verrückt geworden«, kommentierte der Kafka-Experte Klaus Wagenbach (dessen Papiere ebenfalls in Marbach archiviert werden), als die Anfechtung von Ester Hoffes Testament bekannt wurde.10 Doch im Lauf der Verhandlung unter Richterin Kopelman Pardo rückte das Literaturarchiv von seiner konfrontativen Haltung ab und betonte, eine Schlacht um Kafka mit nur einem Sieger lasse sich durchaus vermeiden.