Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Balint
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946334545
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vom Auswärtigen Amt, mit dem Franz Rosenzweig Minerva Research Center und der Hebräischen Universität Jerusalem ein Forschungsprojekt begonnen habe, bei dem es um die Bewahrung deutsch-jüdischer Sammlungen in israelischen Archiven gehe. »Kooperative, dezentrale Projekte sind im Kontext der deutschisraelischen Beziehungen besser mit der besonderen deutschen Verantwortung vereinbar.«11

      Eva Hoffe hatte dazu eine dezidierte Meinung. »Marbach traut sich nicht, den israelischen Behauptungen offen zu widersprechen«, wird sie im November 2009 in der Wochenzeitung Die Zeit zitiert. »Da ist immer noch ein schlechtes Gewissen wegen des Krieges und des Holocaust.«12 Mir gegenüber sagte sie, »Deutschland und Israel, die deutsche und die levantinische Kultur«, seien eben »einfach unvereinbar«.

      Das Archiv verpflichtete den israelischen Urheberrechtsexperten Sa’ar Plinner, die Marbacher Interessen im Fall Hoffe zu vertreten. Plinner legte dem Gericht eine Aussage des Archivleiters Ulrich von Bülow vor, der zufolge Brod in den 1960er Jahren das Archiv besucht und explizit den Wunsch geäußert habe, dass sein Nachlass nach Marbach gehen solle. Das Verfahren diene dem israelischen Staat lediglich als Vorwand, Privateigentum an sich zu reißen, so Plinner. Der ursprünglich private Austausch zwischen Kafka und Brod sei zunächst in Brods Besitz übergegangen, dann in den weiteren Kreis der Familie Hoffe, und nun falle er womöglich sogar an den Staat.

      In einer späteren Verhandlung verwies Plinner erneut auf die persönliche Beziehung, die am Beginn dieses Falls stehe: die Freundschaft zwischen Kafka und Brod. Das Gericht möge doch bitte unterscheiden zwischen den Manuskripten, die Kafka Brod geschenkt, und denen, die Brod nach Kafkas Tod aus dessen Schreibtisch geholt hatte. Letztere, so Plinner, gehörten rechtmäßig weder der Familie Hoffe noch der Nationalbibliothek, sondern höchstens Kafkas einzigem lebenden Erben, Michael Steiner in London.

      Doch auch Brods Anrecht auf die Geschenke, die er direkt von Kafka erhielt, ist durchaus umstritten. Kafka-Biograf Reiner Stach etwa schreibt, dass Brod zwar behauptete, Kafka habe ihm mehrere unvollendete Manuskripte geschenkt, doch tatsächlich habe Kafka sie Brod nur als eine Art »Dauerleihgabe« überlassen und ihn später ausdrücklich darum gebeten, sie zu verbrennen. Wegen seiner Verdienste um Kafkas literarisches Vermächtnis stellte allerdings kaum jemand Brods Behauptung infrage. Michael Steiner schrieb mir dazu:

      Den Kafka Estate interessierte in dieser Angelegenheit, ob Franz Kafka einige der Manuskripte, um die es in der Streitsache ging, Max Brod womöglich nie geschenkt hat und sie daher zum Kafka-Nachlass gehören. Wir brauchten viele Jahre, um eine Inventarliste zu bekommen, und da diese Liste nicht von einem Wissenschaftler erstellt worden war, bleiben bis heute Zweifel, ob bestimmte Manuskripte je als Schenkung an Brod gingen. Sämtliche Richter haben über die Jahre betont, dass sie sich mit dieser Frage nicht befasst hätten, sondern nur damit, wer der rechtmäßige Eigentümer der Manuskripte war, die laut Brods Letztem Willen ihm gehörten oder ihm zu Lebzeiten möglicherweise geschenkt worden waren.13

      Die Auseinandersetzungen vor Richterin Kopelman Pardo fanden auch außerhalb des Gerichtssaals Widerhall. Im Januar 2010 bezog Reiner Stach im Berliner Tagesspiegel Stellung:

      Marbach wäre sicher der richtige Ort für den Brod-Nachlass, weil man dort die Wissenschaftler und die Erfahrung hat im Umgang mit Kafka, Brod und der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. Dass die Hoffe-Töchter mit Marbach jetzt ernsthaft verhandeln, hat im Israelischen Nationalarchiv [sic] irgendwelche Ressentiments oder Begehrlichkeiten geweckt. Dort jedoch fehlen für diese deutschsprachigen Texte aus dem einstigen Kulturraum zwischen Wien, Prag und Berlin die sprach- und milieukundigen Leute. Brod hatte ja schon als junger Mann zahllose Kontakte geknüpft, zu Heinrich Mann, zu Rilke, Schnitzler, Karl Kraus, Wedekind oder zu Komponisten wie Janacek [sic], und er besprach diese Korrespondenzen mit Kafka. Aber das war Jahrzehnte, ehe er nach Palästina kam – hier von israelischem Kulturgut zu sprechen, erscheint mir ganz abwegig. In Israel gibt es heute weder eine Kafka-Gesamtausgabe noch eine einzige Straße, die nach Kafka benannt wäre. Und suchen Sie Brod auf Hebräisch, müssen Sie ins Antiquariat gehen.14

      Tatsächlich begann Mordechai Nadav erst 1966 mit dem Aufbau der Archivabteilung der Nationalbibliothek, als die literarischen Nachlässe von Martin Buber und dem israelischen Nobelpreisträger S. J. Agnon an die Bibliothek gingen. Und erst 2007 richtete sie eine gesonderte Abteilung für Handschriften und Nachlässe ein.15 Doch einige Israelis wehren sich gegen die Behauptung, Israel mangele es an Wissen und Ressourcen für die Aufbewahrung von Brods Manuskripten. Professor Otto Dov Kulka erklärte gegenüber der israelischen Zeitung Ha’aretz: »Als gebürtiger Prager, der an der Hebräischen Universität mit israelischen und ausländischen Kollegen die jüdische Kultur und Geschichte sämtlicher Epochen erforscht – in ihren Sprachen Hebräisch, Deutsch und Tschechisch –, verwahre ich mich entschieden gegen die verlogenen und ungeheuerlichen Behauptungen, die unsere Legitimität für die Durchführung dieser Forschungen und einen wissenschaftlich angemessenen Umgang mit diesen Primärquellen im Allgemeinen und mit Kafka und Brod im Besonderen infrage stellen.« Der New York Times sagte Kulka 2010: »Es heißt, die Papiere seien in Deutschland sicherer. Die Deutschen würden sich gut darum kümmern. Die Deutschen haben sich aber im Lauf der Geschichte nicht sonderlich gut um Kafkas Sachen gekümmert. Sie haben sich nicht gut um seine Schwestern gekümmert [die im Holocaust umkamen].«16

      Im Februar 2010 verfasste Kulka mit zwei Dutzend renommierten israelischen Wissenschaftlern einen offenen Brief auf Hebräisch, der auch auf Deutsch erschien (einem nicht ganz perfekten und etwas altmodischen Deutsch): »Wir, die Unterzeichneten, israelische Akademiker und Forscher die sich mit der deutsch-judischen Geschichte befassen, sind entsetzt über die Art wie die israelische Akademia in der deutschen Presse dargestellt wird, als ob wir weder Interesse, noch das historische Wissen und sprachliches Können hätten, um das Max Brod Archiv zu erforschen. Max Brod ist ein Teil der Geschichte des Staates Israel, ein Schriftsteller und Philosoph, der unzahlige Artikel über den Zionismus geschrieben hat und der sich, nach seiner Flucht vor den Nazis aus Prag, in Israel (damals Palaestina) niederliess und hier uber dreissig Jahre bis zu seinem Tod lebte.«17

      Nurit Pagi, die an der Universität Haifa über Brod promovierte, war die treibende Kraft hinter dem offenen Brief. Der Zeitung Ha’aretz sagte Pagi: »Brods breit gefächertes Werk hat unter anderem deshalb nicht die verdiente Anerkennung erhalten, weil sein Archiv – das 20.000 Seiten umfasst – seit seinem Tod 1968 Wissenschaftlern nicht zugänglich war, obwohl er darum gebeten hatte, dass es an die Nationalbibliothek gehen solle. Nun besteht die einzigartige Chance, diese Ungerechtigkeit, die ihm seit vielen Jahren widerfährt, zu korrigieren und Forschern aus Israel und anderen Ländern die Möglichkeit zu geben, neues Licht auf sein Werk und sein Erbe zu werfen.«

      Pagi erzählte mir, ihre Mutter und Eva Hoffe hätten in dem Jugenddorf Ben Schemen zusammen die Schule besucht, das 1927 gegründete landwirtschaftliche Internat. Pagi stieß in den 1960er Jahren in einer öffentlichen Bücherei in Haifa zum ersten Mal auf Brods Romane und erkannte mit wachsender Faszination, dass Brod parallel zu seiner Hinwendung zum Zionismus literarisch einen realistischeren Stil und Wortschatz entwickelt hatte. Für sie war Brod der Beweis für eine allgemeinere Weisheit: »Der Zionismus wurde auf Deutsch verfasst.« Pagi bezog sich auf die tiefe Verwurzelung der zionistischen Bewegung in der deutschsprachigen Kultur, angefangen mit den Schriften des Wiener Journalisten Theodor Herzl, den ersten Zionistenkongressen in Basel und zionistischen Zeitungen wie der Jüdischen Rundschau von Robert Weltsch, einem Cousin Felix Weltschs.

      Vor einigen Jahren erfuhr Pagi, dass der Sohn einer der bedeutendsten israelischen Dichterinnen zögerte, den literarischen Nachlass seiner Mutter in Israel zu belassen, weil »wir hier keine Zukunft haben«, wie er sagte. »Der Verbleib des Brod-Archivs in Israel könnte beweisen, dass wir an unsere Existenz und unsere Zukunft hier im Land glauben«, so Pagi. »Dass wir wissen, die zionistische Bewegung hat sich noch lange nicht verwirklicht und dem Erbe des mitteleuropäischen Judentums fällt bei dieser Verwirklichung eine wichtige Aufgabe zu. In der Tat, auch der Kampf um den Verbleib des Archivs von Max Brod in Israel ist einer der wichtigen Kämpfe, die wir für unsere Zukunft in unserem Land austragen.«18 Andreas Kilcher aus Zürich, renommierter Experte für Kafka und deutsch-jüdische Literatur, zitierte Pagis Worte als ein Beispiel für den »kulturkämpferischen