Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Balint
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783946334545
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Seiten – »Ressentiments«, »ungeheuerliche Behauptungen«, »kulturkämpferisch« – spiegelt jedenfalls deutlich den Streit von Deutschen und Israelis um das gemeinsame literarische Erbe wider.

      Bei der nächsten Sitzung des Familiengerichts von Tel Aviv, kurz nach Margot Cohns Kreuzverhör, machte auch Eva Hoffe ihre Aussage. Nach dem »Hinterhalt« beim ersten Gerichtstermin hatten sich ihre Schwester Ruth und sie zunächst an Arnan Gabrieli gewandt, einen der angesehensten Anwälte für Urheberrecht in Israel. Gabrieli hatte ihre Mutter Ester vertreten und auch die Verhandlungen für den umstrittenen Verkauf der Sammlung des Jerusalemer Dichters Jehuda Amichai an die Yale University geführt. Doch Eva Hoffe zufolge belästigte ihre Schwester Gabrieli dermaßen – unter anderem rief sie wiederholt bei ihm zu Hause an –, dass er den Fall ablehnte. Stattdessen engagierten die Schwestern die Anwälte Uri Zfat und Jeschajahu Etgar. (Zfat hatte 1975 im Alter von 24 Jahren als Jurastudent an der Bar-Ilan-Universität Büroarbeiten für Richter Schilo erledigt.)

      Von Anfang an stellten die beiden Anwälte die Position der Nationalbibliothek als Versuch dar, Privateigentum zu verstaatlichen. Das Urteil von Richter Schilo aus dem Jahr 1974, mit dem der Vorstoß des Staates, sich die Kafka-Manuskripte anzueignen, abgewehrt wurde, solle Bestand haben, argumentierten sie und riefen Richterin Kopelman Pardo in Erinnerung, dass Schilo im damaligen Verfahren, anders als im gegenwärtigen, Ester Hoffes Aussage selbst hatte hören können. »Die Ansprüche der Bibliothek waren bereits Gegenstand eines Verfahrens […] und wurden in einer Weise entschieden, die für eine erneute Verhandlung keinen Raum lässt.«

      Ohnehin dürfe man die Kafka-Papiere nicht als Teil von Brods Nachlass betrachten, so Uri Zfat. Da Brod in seinem Testament Kafkas Papiere nicht gesondert erwähnt habe, sei er sich durchaus bewusst gewesen, dass sie nicht mehr zu seinem Nachlass gehörten; er hatte sie Ester Hoffe ja bereits geschenkt. Und schließlich habe die Nationalbibliothek in den Jahren, in denen sie mit Ester Hoffe über die Kafka-Schriften verhandelt habe, nie auch nur angedeutet, dass sie sich selbst als rechtmäßige Erbin verstanden hätte.

      Schmulik Cassouto, Ester Hoffes Nachlassverwalter, fügte hinzu, der Vorstoß des Staates, die Manuskripte an sich zu reißen, komme »offener Bevormundung« gleich und sei »eines demokratischen Staates, als der sich Israel präsentiert, unwürdig«. Cassouto fuhr fort: »Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob Brod seinen Nachlass der Person hinterlassen hat, die dafür am besten ›geeignet‹ war. Auch steht es uns nicht zu, in Zweifel zu ziehen, was ihm am meisten am Herzen lag. Der Staat mag Recht haben mit der Behauptung, dass es für Brod besser gewesen wäre, wenn er Frau Hoffe nicht so nahe gestanden hätte, oder dass er seinen ›Schatz‹ besser einem passenderen Erben vermacht hätte – und einen passenderen Erben als den Staat Israel gibt es nicht. Aber Brod hat Frau Hoffe eben nahegestanden. Für ihn war sie die einzige verbleibende Familie, und ihr wollte er alles geben, was er besaß. Dieser Wille muss respektiert werden.«

      Da Brod die Kafka-Manuskripte zu Lebzeiten als Schenkung an Ester Hoffe gegeben habe, so Cassouto, seien diese Manuskripte de facto und de jure nicht Teil des Brod-Nachlasses und somit nicht Gegenstand der Testamentsauslegung. Was Brods eigenen Nachlass angehe, habe er Ester Hoffe testamentarisch eindeutig das Recht übertragen, zu entscheiden, wo sie ihn hingebe und unter welchen Bedingungen. Wenn die Nationalbibliothek Anstand beweisen wolle, fuhr er fort, würde sie mit Eva Hoffe über den Erwerb der Manuskripte verhandeln, statt sie dermaßen unter Druck zu setzen. Dass die Nationalbibliothek die Manuskripte erhalten könnte, ohne Eva Hoffe dafür zu entschädigen, bezeichnete er als »absurd«.

      Abgesehen von solchen juristischen Feinheiten waren die Sitzungen vor dem Familiengericht von Tel Aviv jedoch von allgemeineren Überlegungen darüber beherrscht, wo Kafkas und Brods Erbe nun eigentlich hingehöre. »Wie bei vielen anderen Juden, die ihren Beitrag zur westlichen Zivilisation geleistet haben«, sagte Meir Heller über Kafka, »sollten sein Erbe [und] seine Manuskripte unserer Ansicht nach hier im jüdischen Staat verbleiben.« Auch Ehud Sol (von der angesehenen israelischen Anwaltskanzlei Herzog, Fox und Neeman), gerichtlich bestellter Verwalter des Brod-Nachlasses, argumentierte, das Gericht müsse, wenn es zwischen Marbach und der Nationalbibliothek entscheide, auch Kafkas und Brods Haltung »zur jüdischen Welt und zum Land Israel« berücksichtigen, ebenso wie Brods Haltung zu Deutschland nach der Schoah. Die Frage, wie wichtig Brod und Kafka das jüdische Volk und seine politischen Ziele waren, sollte sich für den Prozess – und für die Urteile der Richter – als entscheidend erweisen.

      4

       Flirt mit dem Gelobten Land

      Festsaal im Hotel Central, Prag, 20. Januar 1909

      [Ich wäre], wenn schon nicht nach Palästina übersiedelt, doch mit dem Finger auf der Landkarte hingefahren.

      FRANZ KAFKA, 19181

      Der Theologe Martin Buber, Apostel eines neuen, geistig dynamischen Judentums, hielt einen Vortrag im Prager Hotel Central. Eingeladen hatte der zionistische Studentenverein Bar Kochba, der von Hugo Bergmann geleitet wurde. Bergmann hatte, ebenso wie Felix Weltsch und Hans Kohn, mit Kafka die erste bis zwölfte Klasse besucht.2 Für Buber, Herausgeber von beliebten Anthologien traditioneller chassidischer Erzählungen aus dem 18. Jahrhundert, war es der erste von drei Vorträgen (im Januar 1909 und im April und Dezember 1910) über die Wiederbelebung des Judentums.3 Es war nicht die erste Begegnung zwischen den Prager Zionisten und Buber, der Prag bereits 1903 anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Bar-Kochba-Vereins besucht hatte, wohl aber der bedeutsamste.

      Max Brod, damals 25, hatte in dem vollbesetzten Festsaal bereits dem Vorprogramm beigewohnt: Die sechzehnjährige Schauspielerin Lia Rosen rezitierte mit verführerischer Stimme Gedichte Hugo von Hofmannsthals (mit dem Rainer Maria Rilke sie im November 1907 in Wien bekannt gemacht hatte).4 Auch sang sie Richard Beer-Hofmanns »Schlaflied für Mirjam« mit den Zeilen:

      Was ich gewonnen, gräbt man mit mir ein.

      Keiner kann keinem ein Erbe hier sein.

      Als Buber die Bühne betrat, war Brod beeindruckt von der wachen Intelligenz, die in seinen Augen loderte. Ihn begeisterten die ausgefeilten Sätze zur jüdischen Selbstbestimmung, die wortgewaltigen Ausführungen über die geistige Erneuerung. »Warum nennen wir uns Juden?«, fragte Buber. »Weil wir es sind? Was bedeutet das, daß wir es sind?« Er frage nicht nach den »Formationen des äußeren Lebens, sondern nach der inneren Wirklichkeit«.5

      In seiner Autobiografie schrieb Brod, er habe bis dahin dem jüdischen Studentenverein als »Gast und Opponent« angehört, sei jedoch als Zionist aus Bubers Vorträgen herausgekommen. Zuvor habe er keinerlei jüdischen Selbsthass in sich gespürt, aber auch keinen besonderen jüdischen Stolz. Die Begegnung mit Buber veränderte Brods Haltung zum jüdischen Leben und in der Folge auch seine Haltung zu Kafka und zu Kafkas Literatur. Hier habe sein Kampf für, ja sein »Kampf um das Judentum« begonnen, wie der Titel eines seiner Bücher lautete. Bubers Vorträge spornten Brod an, etwas zu artikulieren, das er und viele andere deutschsprachigen Juden bis dahin nur vage gespürt hatten: Der Versuch, sich mit dem »deutschen Geist« zu identifizieren, war gescheitert. Diesem Scheitern folgte eine intensive Auseinandersetzung mit der »persönlichen Judenfrage«, wie Robert Weltsch es später formulierte. Brod sei von der fast ausschließlichen und bewussten Beschäftigung mit ästhetischen Aspekten zu einer vollständigen Identifizierung mit dem jüdischen Volk gelangt, so Weltsch.6

      Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung war das Gefühl der Fremde. »Der deutsche Jude im tschechischen Prag verkörperte sozusagen das Fremde und das bewusste Fremdsein«, schreibt Pavel Eisner. »Er war ein Volksfeind ohne eigenes Volk.«7 Einige Prager Juden entkamen dieser Fremdheit durch Flucht in die Ferne, weil sie hofften, dort ihren Schwebezustand zu überwinden: nach Wien (Franz Werfel), Berlin (Willy Haas) oder nach Amerika (wie die Eltern von Louis D. Brandeis). Manche wandten sich dem radikalen Sozialismus zu (so Egon Erwin Kisch) oder ließen sich christlich taufen. Einige Prager Juden – Gershom Scholem verspottete sie als Hatschi-Zionisten – betrieben eine Art Mode-Zionismus. Wieder andere, wie Max Brod, wandten sich dem Zionismus mit großer Ernsthaftigkeit