Von St. Stephan nach St. Marx. Gerhard Tötschinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Tötschinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783902998934
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Leben im Lager selbst hatte zivilbürgerlichen Charakter. Viele Soldaten waren Familienväter, ihre Frauen und Kinder lebten in der nahen Zivilstadt oder in der Vorstadt, nahe der Kaserne.

      Die Lagerhauptsraße via principalis durchmaß das gesamt Areal, gequert von der via decumana und der praetoria. An den Enden dieser Straßen standen mächtige Türme, an die 30 m hoch, mit Zinnen und von Steinmetzhand geziert, mit Inschriften, eindrucksvoll für Passanten und Besucher. Die Lagertore mit diesen Türmen standen in der Kramergasse/Ertlgasse – Porta Principalis Dextra, bei der Hohen Brücke – Porta Principalis Sinistra, am Ende der Tuchlauben beim Graben – die Porta Decumana, und bei der Kirche Maria am Gestade, knapp vor der Donau – die Porta Praetoria.

      Die Zivilstadt hatte ihr eigenes Leben, nicht aber ihre eigene Verwaltung. Diese und die Rechtsprechung lagen in den Händen des Militärkommandanten. Allerdings hatte die Zivilstadt, nicht zu verwechseln mit der unmittelbar neben dem Legionslager liegenden Lagerstadt, ihr eigenes Kapitol – an der Stelle des einstigen Aspernbahnhofs, ihr Forum – wahrscheinlich nahe der Rennwegkaserne. Die Hauptstraße, in etwa ein Vorläufer des Rennwegs, führte in Richtung des Castells Ala Nova – Schwechat – und weiter nach Carnuntum, also entlang dem Hauptarm der Donau. Sie war von Wohnhäusern und Handwerkerbetrieben gesäumt.

      Wenn auch die höchste geschätzte Einwohnerzahl dieser Kleinstadt bei nur 15 000 Menschen lag, den römischen Alltag mag man sich durchaus im Vergleich mit größeren Siedlungen vorzustellen. Denn Rom trachtete, den eroberten Ländern und Völkern zu zeigen, was Zivilisation heißt. Der Anschein von Provinz wurde weitgehend vermieden – Straßen, Wasserversorgung, Statuen an öffentlichen Plätzen, hohe Gebäude. Die oftmals prachtvollen Bauten machten auf die Bevölkerung und auf Besucher schweren Eindruck. Wenn die Germanen aus der nahen Siedlung am anderen Donauufer zum Einkaufen und Liefern kamen, staunten sie – und ahmten bald nach, was sie hinter dem Limes kennengelernt hatten: lebhaftes Treiben auf den Marktplätzen, Händlerbuden, Schreibstuben, Klatsch und Tratsch an den Brunnen und den öffentlichen Wasserabgabestellen der staatlichen Versorgung und oft ein reichhaltiges Freizeitangebot.

      An Gladiatorenkämpfen oder der Tierhatz konnte man sich hier freilich nicht erfreuen, dazu musste man in die Provinzhauptstadt reisen, nach Carnuntum, wo es auch zwei Amphitheater gab, eines für die Soldaten, eines in der Zivilstadt. Dort gab es sogar eine Gladiatorenschule.

      Eine Therme hingegen besaßen sowohl das Militärlager Vindobona als auch die Zivilstadt. Denn sie hatte nicht einfach der Unterhaltung zu dienen, sie war wesentlicher Teil der Hygiene. Duschen gab es noch nicht, sich am Morgen zu waschen, war unüblich. Die Therme war in den allermeisten Fällen die einzige Möglichkeit zu ausgiebigerer Körperpflege, nur wenige große Haushalte leisteten sich eigene Thermenanlagen.

      Die Therme im Lager hatte die bedeutenden Maße von 100 m mal 60 m, man muss sie sich in der Gegend Marc-Aurel-Straße/Sterngasse vorstellen. Dort stößt man beim Flanieren durch die Innenstadt auf mehrere große Steinblöcke, die auf den ersten Blick für ein Werk des Bildhauers Fritz Wotruba gehalten werden könnten – es sind aber mächtige Quader der römischen Badeanlage.

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       Römische Bausteine der Badeanlage von Vindobona, gefunden 1962

      Die zivilstädtische Therme war einfacher und nicht so umfangreich, in der Oberzellergasse hat man ihre Spuren entdeckt. Die Thermen waren wesentlicher Bestandteil des römischen Lebens: Badeanstalt, Sauna, Massagepraxis, Beautycenter, Sportanlage, alles in einem. Natürlich blühte auch der Tratsch – wie übrigens ebenso in den öffentlichen Toilettenanlagen, den Latrinen. Wo man an verschwiegenen Orten zusammensaß, ging es eben gar nicht verschwiegen zu. Der Begriff Latrinengerücht ist auch heute noch in Gebrauch. Am Eingang der Latrine saß nicht eine später so genannte Klofrau, sondern ein Sklave, der einen Krug vor sich stehen hatte. In diesen hatte man seinen Obulus zu entrichten, das Entrée. Kaiser Vespasian hatte diese Häuslabgabe eingeführt und auf Kritik erklärt: »Pecunia non olet!« Geld stinkt nicht. Ihm zu Ehren heißt auch noch in unseren Tagen eine öffentliche Toilette in Rom Vespasiana.

      Einträchtig saß man hier zusammen – Männer, aber auch Frauen, nach Geschlecht getrennt, verschiedensten Rangs und Standes. Der eine oder andere große Herr freilich leistete sich und den Seinen eine private Hauslatrine, aber das war eine seltene Ausnahme.

      Apropos verschwiegene Orte – wie verbrachten die Wiener Römer ihre Freizeit, wenn sie nicht in der Therme waren? Bei den upper ten gab es natürlich luxuriöse Angebote, selbst für Frauen. Reiche Römer veranstalteten großzügige Abendeinladungen, Herren und Damen lagen da einträchtig beisammen, verzehrten Kostspieliges und tranken – zuerst noch im Rahmen, doch waren die Damen nicht mehr dabei, was das Zeug hielt. Das war in der fernen Metropole so und wurde allenthalben imitiert.

      Aber nicht von Krethi und Plethi. Für die weniger wohlhabende Bevölkerung, für den Großteil also, gab es andere Möglichkeiten. Die Ehefrauen hatten ihre Kinder und Nachbarinnen, die Thermen und das dortige Schönheitsangebot. Auch die Tempelbesuche, der religiöse Kult, verlangten ihre Zeit. Das galt auch für die Männer, aber … man weiß ja.

      Die Freizeit ließ sich in den Kneipen verbringen, »in taberna quando sumus« heißt es in den Carmina burana. Die gehobene Kneipe, ein Gasthaus, hieß popina. Das konnte schon eine Weinstube sein – und stand in zumeist schlimmem Ruf. Den Wein zu panschen war offenbar allgemein üblich, und popino, Wirt, galt als Schimpfwort.

      Martial, der geniale römische Humorist und Denker, fand in unehrlichen Weinwirten eine immer genutzte Quelle für Spott – und warnte selbst vor dem Import! Über einen Weinhändler in Marseille, der häufig nach Rom lieferte, schrieb er: »Du kommst seit langer Zeit nicht mehr nach Rom. Damit du nicht deine eigenen Weine trinken musst.«

      Diese Kneipen gaben nicht nur Gelegenheit zum Trinken, sie boten auch Hinterzimmer an, die dem Glücksspiel und der Prostitution dienten. Dort trafen sich aber nicht die Angehörigen der besseren Kreise, die auf ihren guten Ruf achteten.

      Wer mehr über Vindobona wissen will, besuche die Museen – vor allem das Römermuseum am Hohen Markt. Dort lernt man eine Hypokaustenheizung, Vorform der Fußbodenheizung, kennen, sieht Häuser von Tribunen, höheren Offizieren – dorthin bringt man Kinder und Enkel zum spielerischen Kennenlernen der Antike. Aber auch das Feuerwehrmuseum mitten im Lager, Am Hof, hat einiges zu bieten. So gibt es hier einen antiken Kanaldeckel, bestes Design, immer wieder anzutreffen, auch in Museen anderer Städte. Im Keller verläuft der Abwasserkanal von Vindobona, und Grabsteine berichten von der römischen Feuerwehr!

      Im Frühjahr 2015 gab es in Wien eine archäologische Sensation. Auf einer Großbaustelle der Post im 3. Bezirk wurden plötzlich die Arbeiten unterbrochen. Die Archäologen, die wie stets in solchen Fällen die Erdarbeiten begleiteten, kamen zum Einsatz. Man war auf das frühe Vindobona, auf das 1. Jahrhundert n. Chr. gestoßen.

      Mit einer der wesentlichsten Persönlichkeiten der Kaiserzeit Roms ist Wien verbunden – mit Marc Aurel. In Vindobona hat er lange gelebt, im Kampf um die Sicherung der Nordgrenze.

      Mit vollem Namen hieß er als Imperator Caesar M. Aurelius Antoninus Augustus, geboren am Mons Caelius in Rom am 26. April 121. Er gehörte zur Gruppe der Adoptivkaiser, fünf aufeinanderfolgenden Monarchen, die keinen leiblichen Erben hinterließen, also wurde die Nachfolge durch Adoption geregelt. Die Reihe begann mit Nerva (96–98), weiter ging es mit Trajan (98–117), Hadrian (117–136) und Antoninus Pius (136–161), bis eben Marc Aurel. Aus der Reihe ragt der vorausblickende Hadrian, der seinen Sohn Antoninus Pius gleich auch den Enkel adoptieren ließ, Marc Aurel. Diesem folgte sein leiblicher Sohn Commodus.

      Mit Nerva begann eine für Rom glückliche Epoche. Der Historiker Cassius Dio nennt sie in seiner Römischen Geschichte ein »Goldenes Zeitalter«, dem eines von »Rost und Eisen« folgte.

      Marc Aurel war der letzte bedeutende Vertreter der jüngeren Stoa, der philosophischen Richtung, die durch ein halbes Jahrtausend die griechische und die römische Kultur geprägt hat. Die Schriften des »Philosophen auf dem Kaiserthron« sind das letzte Zeugnis