Der blonde Bursche vorn an der Rezeption hätte vor Schreck fast den Federhalter und das Gästebuch fallen lassen, als er die Eintragung las. Ganz deutlich stand es da in großen, etwas starren, steilen Buchstaben: Hal Flanagan, aus Panhandle, Texas.
»Kümmern Sie sich um mein Pferd!«, rief der Schießer dem Burschen zu.
»Yeah – Mister Flanagan. Selbstverständlich.«
Während der Revolvermann sich oben im Zimmer auf seinen Stuhl fallen ließ und die staubigen Stiefel von sich streckte, rannte die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Stadt: Hal Flanagan ist da! Big Hal Flanagan aus Texas! Er wohnt in Brightons Boardinghouse!
Und der Texaner wusste, dass es so war. Es musste so laufen, das gehörte zu seinem Job. Das, was er jetzt gesät hatte, war die Angst. Sie würde sich über Nacht in die Herzen der Menschen hineinfressen. Es war jetzt ein Mann unter ihnen, dessen Name sie fast alle kannten. Und die ihn noch nicht gekannt hatten, würden ihn morgen früh sicher kennen. Es war einer da, der durch seinen Colt bekannt geworden war. Ein Revolvermann. Ein Mann, der davon lebte, dass er schneller war als der, den er töten sollte.
Eine festgefressene seltsame Auffassung des Gesetzes gestattete einem solchen Menschen sein makabres Handwerk. Eine starre und primitive Auffassung, die zurück ins Mittelalter gehörte: Wenn der Schießer einen Mann töten wollte, forderte er ihn zum Duell heraus. Dies geschah nur durch den Ruf »Zieh!« Zog der andere, um sich zu verteidigen, schoss der Revolvermann, und zwar ehe der Gegner abdrückte. Nur diese kurze Zeitspanne war sein Risiko. Wenn einmal einer schneller zog und abdrückte als er selbst und dazu auch noch traf, war die Laufbahn des Revolvermannes beendet.
Das geradezu Irrsinnige an diesem so genannten Duell war die Tatsache, dass der Schießer, der ja vom Töten lebte, nicht als Mörder angesehen wurde, wenn er den Menschen, den er doch bewusst vernichten wollte, getötet hatte …
Aber das war das ungeschriebene Gesetz des Westens, das allenthalben strengste Beachtung fand. Wenngleich der Schießer ob seines blutigen Handwerks auch verachtet wurde, gemieden wie eine Seuche – so hatte doch niemand das Recht, ihn als Gesetzesübertreter anzusehen oder gar zu behandeln. Diese verkrampfte, ja geradezu widersinnige Auffassung hatte manchem braven Menschen im alten Westen das Leben gekostet.
Es gab ja noch eine Chance für den Geforderten: Er konnte den Colt stecken lassen. Er brauchte nicht zu ziehen. Aber wie stand er dann da? In einem Land, wo der Colt zum Mann gehörte und wo sich der Mann so wenig davon trennte wie von seinem Sattel? Er war blamiert, fertig, unmöglich – und zudem gab der Schießer ja nicht auf – er folgte ihm so lange, bis dem so Gequälten die Galle überlief und er zum Colt griff. Dann war er noch sicherer das Opfer des Töters.
Es kam öfter vor, dass ein Schießer in die Stadt kam. Immer gab es Menschen, die einen Vertreter dieses Gewerbes für einen anderen Menschen kauften, dem sie den Tod wünschten. Aber noch nie war in der kleinen Missouristadt Joplin ein Revolvermann gewesen, der einen so gefürchteten Namen trug wie der Texaner Hal Flanagan.
Es lief alles planmäßig.
Während Flanagan friedlich und traumlos in seinem Hotelbett schlief, fraß sich die Angst durch die Stadt, kroch durch Türschlitze in die Häuser, verbreitete Schrecken und Ruhelosigkeit.
Wer hatte ihn bestellt?
Für wen?
Für mich?
Drei bange Fragen, von denen die letzte die furchtbarste war.
Und hatte nicht jeder, der hier in der Western-Stadt um sein Dasein kämpfte, irgendwann einmal etwas getan, wofür er so einen Schießer erwarten konnte?
Die meisten ganz sicher.
Die Zeit war zu rau gewesen und das Land zu wild, als dass man in friedlicher Regelmäßigkeit sein Leben hätte hier aufbauen können.
Es hatte bei fast jedem Mann in der Stadt irgendwann Punkte gegeben, die er gern von seinem Gewissen gewischt hätte.
Vor allem jetzt in dieser Stunde.
In dieser Nacht!
Dinge, die längst in Vergessenheit geraten waren, tauchten plötzlich wieder auf. Wer hat ihn mir geschickt?
Und auf einmal fand jeder einen anderen, dem er es zutrauen würde, dass er ihm den Schießer auf den Hals geschickt hatte.
Nur ein Mann lebte in der Stadt, der in dieser Nacht sorglos zur Ruhe ging. Das war der weißhaarige Sägerei-Besitzer Jim Chesterton.
Er war der Einzige, der keine Sorgen hatte – weil er nie einem Menschen wehgetan hatte. Und weil er das ganz genau wusste.
Chesterton legte sich, müde vom Tagewerk, zur Ruhe und stand erholt in der Frühe des nächsten Morgens auf.
Als er um sieben Uhr in den Hof kam, wo seine Arbeiter schon beschäftigt waren, sah er den Mann mit dem weißen Hut ins Tor reiten.
Zahllose Augenpaare in der Mainstreet waren dem Schießer auf seinem Weg gefolgt.
Die Arbeiter in der Sägerei schraken hoch.
Jim Chesterton zog die Brauen zusammen. Plötzlich fiel ihm die Sache ein, die gestern Abend Greg Fuller erzählt hatte: Ein bekannter Revolvermann war in die Stadt gekommen. Er sollte einen weißen Hut tragen …
Chesterton kam näher.
Da rutschte der Fremde aus dem Sattel, machte zwei Schritte zur Seite und blieb stehen. Ganz kalt und ruhig, so, als tue er jeden Tag das Gleiche. Die behandschuhten Hände hingen steif neben den Revolverkolben.
»Chesterton!« Hohl klang der Ruf über den Hof.
Der weißhaarige Mann blieb stehen. Und der Schießer senkte den Kopf.
»Jim Chesterton, ich bin Hal Flanagan aus Texas!«
Der greise Sägemüller öffnete den Mund.
»Ja, Mister Flanagan, was führt Sie zu mir?«
Eine heisere Lache bellte über den Hof. Der Revolvermann stieß den Kopf jäh vor.
»Ich bin deinetwegen gekommen, Chesterton!«
Die Arbeiter rührten sich nicht. Ganz steif standen sie da, wie angewurzelt vor Schreck.
Chesterton kam langsam einige Schritte näher.
»Bleib stehen!«, herrschte der Schießer ihn an.
Unwillkürlich verhielt der Mann den Schritt.
»Ich verstehe nicht, was wollen Sie von mir.«
Die völlige Harmlosigkeit des alten Mannes irritierte den Revolvermann. Trotzdem schnarrte er: »Zieh deinen Colt, Chesterton!«
Der Sägemüller wischte sich mit der Rechten fahrig über die Stirn. Er begriff das alles tatsächlich nicht. Was wollte dieser Mann von ihm, der doch wirklich keinen Feind hatte.
Wie war das überhaupt? Da drüben, etwa noch neun Yards entfernt, stand ein Mann mit einem weißen Hut, kalkigem Gesicht und harten grauen Augen. Und er hatte gerufen: Zieh deinen Colt, Chesterton!
Die Brust des alten Mannes hob und senkte sich hastig.
»Ich …, ich habe keinen Revolver bei mir«, stieß er mit belegter Stimme hervor.
Da zog Flanagan aus seinem linken Halfter den Colt, nahm ihn hoch, deutete auf eine winzige Fensterscheibe in etwa fünfzehn Yards Entfernung oben am Hausgiebel.
»Pass auf, Chesterton!«
Der Schuss krachte.
Das kleine Fensterglas zersprang klirrend.
Chesterton begriff das nicht.
Da warf ihm der Texaner den Revolver zu.
»Es sind noch vier Patronen drin! Und dass der Colt schießt, hast du ja gesehen. Heb ihn auf!«
Der Sägemüller blickte den Fremden entgeistert an. Dann sah er auf den