»Ich habe ihm vorhin etwas Wasser gebracht. Ich glaube nicht, dass er davon schon etwas getrunken hat.« Dann senkte sie ihre Stimme noch mehr und flüsterte: »Graham, was sollen wir tun? Es wird von Tag zu Tag schlimmer, er trinkt weder Wasser noch irgendetwas anderes, von Essen ganz zu schweigen. Ich glaube, eine Infektion hat ihn erwischt, und er will nicht, dass wir merken, unter welchen Schmerzen er leidet.«
»Wir hatten Glück, ihn für die Zeit bei uns zu haben, die ihm vergönnt war«, sagte Graham und zog sie zu sich. Sie sah blass aus. Er strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. Als er ihr in die Augen blickte, sah er Angst aufblitzen und fragte sich, was sie so erschreckt haben mochte. Bevor er sie fragen konnte, zogen Schritte hinter ihm seine Aufmerksamkeit auf sich. Macy kam aus dem Badezimmer und sah, wie sie sich umarmten.
»Könnt ihr das nicht woanders machen?«, fragte sie und stapfte frustriert durch die Tür nach draußen.
Graham und Tala mussten beide lachen. »Armes Mädchen«, sagte Tala und wandte sich wieder dem Gedanken an den kranken alten Mann zu. »Ich denke, Ennis braucht Antibiotika und Phenazopyridinhydrochlorid.«
»Phenazo-was?«, fragte Graham.
»Phenazopyridin. Es betäubt die Harnwege. Frag mich nicht, woher ich das weiß. Die Antibiotika haben wir, das andere aber nicht. Ich hasse es, ihn so leiden zu sehen.«
Graham nickte. Er zog sie fest an sich und küsste sie auf die Stirn. Dann ließ er sie los. »Lass es uns ihm so bequem wie möglich machen, bis wir genauer wissen, was mit ihm los ist.«
Tala schloss die Augen und nickte. Stille Tränen rannen über ihre Wangen.
Graham zog seinen Mantel aus und ging in das Innere der Blockhütte. Ihm voraus auf dem Weg zum Schlafraum ging sein Schatten, der durch den goldenen Schimmer dieses ungeheuer kalten Morgenlichts glitt, das auf den abgewetzten, verwitterten Holzfußboden fiel.
Leise betrat er den Schlafraum und fand Ennis auf die Seite gedreht und tief schlafend. Reglos lag er da, nur sein leises pfeifendes Schnarchen war zu hören, an das Graham sich in den letzten Monaten so gewöhnt hatte. Er richtete ein wenig die Decke und betastete die Stirn des alten Mannes. Als er kein Fieber spürte, ließ er ihn weiterschlafen und hoffte, dass die Ruhe ihm helfen würde. Er schloss die Tür zum Schlafraum hinter sich, um den Lärm der Lebenden abzuwehren, die bald ihren Morgenroutinen nachgehen würden.
»Er schläft tief und fest«, sagte er flüsternd zu Tala, um so lange wie möglich den Frieden zu bewahren, der noch über ihrem Zuhause lag. Am besten blieben sie noch eine Weile so leise wie möglich, bevor die anderen zurückkehrten. »Nach dem Frühstück gehe ich noch einmal zu ihm. Wann bist du das nächste Mal am Funkgerät und sprichst mit Clarisse? Vielleicht kann sie uns ein paar Hinweise geben.«
»Wir sind für morgen Nachmittag verabredet.« Tala wirkte noch immer stark angespannt, und als Graham in ihre braunen Augen sah, war dort noch etwas, das ihm Anlass zur Sorge gab. Tatsächlich sah sie bei näherer Betrachtung ziemlich blass aus für eine Frau mit indianischem Erbe und ebensolchem Hautton. »Du siehst nicht gut aus. Ist dir schlecht?«
»Es geht schon. Ich mache mir nur Gedanken um Ennis.«
Schnell verschwand Tala in der Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Graham hatte nicht vor, sie einfach so davonkommen zu lassen, und ging ihr nach, um eine bessere Antwort einzufordern. Doch die Tür ging auf und Sam kam mit den Kindern und Sheriff im Schlepptau herein. Graham und Tala hatten so gut wie nie auch nur einen Moment Privatsphäre – kein Wunder bei vier Kindern, zwei weiteren Erwachsenen und Sheriff.
Sam gab Tala die gesäuberten Fische, damit sie diese – im wahrsten Sinne des Wortes – rasch in die Pfanne hauen konnte. Ihre morgendlichen Aufgaben hatten alle hungrig gemacht. Während die anderen aufräumten und den Tisch deckten, bestückte Graham aufs Neue den Ofen, um die anhaltende Kälte abzuwehren, die durch die Risse und Spalten in den Holzwänden der alten Blockhütte hereinsickerte.
Bald verströmten die Geräusche und Gerüche bratender Fische die verheißungsvolle Erwartung, dass der Hunger in Kürze ein Ende haben würde. Wie immer vor dem Frühstück bildete sich vor der Badtür die vertraute Schlange, da sich alle frisch und sauber an den Tisch setzen wollten. Genauso schnell, wie sie das Essen zubereitet und den Tisch gedeckt hatten, verzehrten sie ihre Mahlzeit aus in Maismehl gebratenen Forellen, cremig gerührter Maisgrütze und hausgemachten, herzhaften Biskuits, ohne über den üblichen Dank hinaus allzu viele Worte zu wechseln. Um ihre Vorräte zu schonen, aßen sie üblicherweise kein Mittagessen. Also hatten sie gelernt, das Frühstück und das Abendessen ernst zu nehmen und gut zu essen. Wenn sie zwischendurch der Hunger packte und sie neue Energie für die harte Arbeit benötigten, die Tag für Tag von ihnen abverlangt wurde, nahmen sie sich etwas von den zusätzlichen Backwaren, die Tala immer bereithielt.
Graham beendete seine Mahlzeit und sah auf, in der Erwartung, dass sich seine und Talas Blicke wie üblich trafen. Aber sie sah nach unten und machte einen gedankenverlorenen Eindruck. Er wusste, dass sie sich Sorgen um Ennis machte, aber er vermisste ihre Fröhlichkeit, die sie sonst ausstrahlte. Heute Morgen schien sie unnatürlich still zu sein. »Das war ein prima Frühstück, Tala«, sagte er. »Danke.«
Sie sah zu ihm auf und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Dann widmete sie sich wieder ihrem Essen, rührte aber kaum etwas davon an. Er wollte sie gerade fragen, was sie beschäftigte, als Sam sich zu Wort meldete. Da Sam niemand war, der verschwenderisch mit Worten umging, wandte sich Graham ihm mit voller Aufmerksamkeit zu, während Tala und der Rest der Bande begannen, den Tisch abzuräumen.
»Hey, Graham, bevor du gehst …« Sam lehnte sich mit einem Ellbogen auf den Tisch. »Ich schlage vor, dass wir noch ein letztes Mal in diesem Winter auf die Jagd gehen. Diesmal wollen Mark und Marcy dabei sein.« Er deutete auf die beiden Teenager, die aus der Tür eilten, um ihren Wachdienst zu übernehmen.
Die deutliche Pause verriet Sam, dass Graham einige Vorbehalte hatte. »Ich weiß nicht so recht«, sagte Graham schließlich. »Seit Jahren habe ich keinen so kalten Winter erlebt.«
Sam wusste, dass es stimmte. Die Außentemperaturen hatten in den letzten Wochen weit unter dem Gefrierpunkt gelegen. Jetzt war Februar, und sie alle sehnten sich nach wärmerem Wetter. Als ob die Erde selbst den massiven Verlust an menschlichem Leben betrauerte, verhüllte sich Mutter Natur zu einer trostlosen Landschaft aus weißer Kälte. Trotzdem versuchte Sam weiter, Graham davon zu überzeugen, dass es notwendig war, noch einmal in diesem Winter hinauszugehen. »Wir müssen unsere Vorräte aufstocken, und zumindest zwei von den Jungen sollten mitkommen. Sie müssen lernen, damit sie im nächsten Jahr ohne uns alte Männer auf die Jagd gehen können.«
Es war Graham anzusehen, wie er nachdachte, und Sam wartete. Graham und er mussten ihnen die Dinge beibringen, die sie brauchten, um notfalls auch auf sich allein gestellt überleben zu können. So sah ihr Leben jetzt aus, und keiner von ihnen wusste, ob er die nächsten kalten Wintertage erleben würde, geschweige denn die hoffnungsvollen Blüten des nächsten Frühlings.
Sam wusste aus Erfahrung, diese Jagd war die letzte der Wintersaison. Später würde es da draußen zu matschig und gefährlich werden, um sich so weit von der Blockhütte zu entfernen, wie es für eine erfolgreiche Jagd nötig war. Er hoffte, dass Graham das auch so sah.
»Könnt ihr nicht noch eine Woche warten?«, fragte Tala und unterbrach die unangenehme Stille. »Vielleicht ist es dann nicht mehr ganz so kalt.«
»Wenn wir noch länger warten, wird der Schnee tauen und die Bedingungen sich rapide verschlechtern. Im nassen Schnee zu zelten ist kein Spaß, und es ist ungleich gefährlicher und schwieriger, sicher über die Pässe zu kommen. Lawinen sind nur eine der möglichen Gefahren. Jetzt ist die letzte Gelegenheit vor dem Frühling, sicher unterwegs zu sein. Ich würde nicht vorschlagen, die beiden mitzunehmen, wenn es zu gefährlich wäre.«
»Natürlich nicht, Sam«, sagte Graham. »Ich denke, wenn du sie jetzt mitnimmst und ihnen ein paar Härten zumutest, lernen sie wahrscheinlich am meisten. Und Marcy für ihren Teil ist bereit. Sie hat jetzt zum ersten Mal darum gebeten,