Ihr fiel ein, daß er gestern abend eine Zeitlang still in der Kirche gesessen hatte. Ob er wohl darüber nachdachte, wie es weitergehen würde, wenn er...
Sie schluckte heftig und unterdrückte die Tränen, die wieder aufstiegen, als sie den Gedanken weiterspann. Jetzt konnte sie sich auch sein Verhalten beim Essen erklären, als er immer wieder aufgestanden und hinausgegangen war.
Nicht um mit einer Freundin zu telefonieren, sondern um seine Medikamente einzunehmen. Es war verständlich, daß er das nicht am Tisch, vor all den anderen, tun wollte.
»Ist Ihnen net gut?« fragte plötzlich eine Stimme neben ihr.
Die kleine Gruppe war dem Thurecker-Franz gefolgt, der ihnen jetzt das Käselager zeigte, in dem die Laiber reiften, bis sie richtig zum Verzehr waren.
Lisa schaute den Sprecher an. Es war Pfarrer Trenker, der sich besorgt zeigte. Sie schüttelte den Kopf, während ihr Blick immer wieder zu Florian hinüber ging.
Sebastian wollte die stumme Verneinung nicht akzeptieren. Mit seiner Lebenserfahrung und Menschenkenntnis ahnte er, daß es einen Kummer gab, den das Madel hatte. Vorerst verzichtete er jedoch darauf, weitere Fragen zu stellen. Es war nicht der richtige Moment. Allerdings entging ihm der Blick nicht, mit dem Lisa Kramer den jungen Florian Brunner ansah, und der Bergpfarrer wußte, daß es da einen Zusammenhang mit den Tränen des Madels gab.
Beinahe alle Teilnehmer der Wandergruppe kauften von dem pikanten Bergkäse, lediglich Lisa verzichtete darauf. Als der Geistliche schließlich zum Aufbruch rief, hatte der Senner etliche Päckchen gepackt, die bis zum Sonntag im Kühlraum des Hotels gelagert werden sollten.
Während sie wieder hinunterstiegen, hielt Sepp Villinger sich merklich von der jungen Verkäuferin zurück. Bestimmt war es für ihn nicht einfach, damit fertig zu werden, daß seine Liebe nicht erhört worden war. Florian hingegen lief an Lisas Seite.
»Hat’s dir gefall’n?« erkundigte er sich.
»Ja, es war wirklich prima«, antwortete sie und versuchte zu lächeln.
»Ich find’s unglaublich schön hier«, sagte Florian. »Überhaupt, die Welt ist einfach wunderschön. Findest’ net auch?«
Sie nickte.
»Ach, man müßt’ vielmehr aus seinem Leben machen«, fuhr der Bursche fort. »Net immer nur arbeiten. Reisen sollt’ man, und alles kennen lernen. Das Leben ist kurz genug.«
Lisa schluckte.
Das sagte ausgerechnet er, der nicht wußte, wie lange er noch zu leben hatte? Dessen Lebens-erwartung von der Laune der Natur, und der Einnahme seiner Medikamente abhing? Wie konnte er so zuversichtlich sein, und von Reisen sprechen, und davon, daß man das Leben genießen müsse, wo es doch heute oder morgen schon zu Ende gehen konnte?
Lisa bewunderte ihn insgeheim für diese Einstellung, und sie fragte sich, warum er sich seine Träume nicht erfüllte. Auch wenn sie nicht viel von ihm wußte, so hatte sie doch im Gespräch erfahren, daß Florian und Sepp eine gutgehende Firma hatten und genug Geld verdienten, um nicht jeden Tag arbeiten zu müssen.
Aber vielleicht war die Arbeit ja auch so etwas, wie eine Flucht vor der Krankheit, überlegte sie. Wer täglich arbeitete, war nicht krank, und diese Regelmäßigkeit konnte Florian vielleicht über seine Situation hinwegtäuschen.
Eine Täuschung, gewiß. Aber wenn sie ihm half, sein Schicksal zu tragen, dann hatte sie ihre Berechtigung.
Pfarrer Trenker hatte sie über den Wirtschaftsweg wieder hinuntergebracht. Vor dem Hotel verabschiedete er sie.
»So, ich hoff’, es hat Ihnen ein bissel Spaß gemacht«, sagte der Geistliche. »Ich wünsch’ Ihnen noch ein paar schöne Stunden und hoff’, daß wir uns einmal wiederseh’n werden. Vielleicht haben S’ auch mal Lust, uns’re Kirche anzuschau’n. Es lohnt sich, und ich freu’ mich immer, wenn ich einen Besucher begrüßen darf.«
»Das stimmt«, meldete sich Sepp Villinger zu Wort. »Wir haben die Kirche schon gestern abend besichtigt. Hochwürden hat recht, die ist wirklich sehenswert.«
»Schön, das freut mich, daß es Ihnen gefallen hat«, nickte Sebastian. »Einen schönen Abend noch. Viel Vergnügen beim Tanz, und falls wir uns net mehr seh’n sollten, dann wünsch’ ich Ihnen schon jetzt eine schöne und gesunde Heimfahrt. Also, pfüat euch, miteinand’.«
*
Bis zum Abendessen und dem Beginn der Veranstaltung in dem Saal, hatte die Reisegruppe noch Zeit, sich auszuruhen und auf das Ereignis vorzubereiten.
Wie alle anderen war auch Lisa Kramer erschöpft auf das Zimmer gegangen. Nach einer ausgiebigen Dusche war sie erfrischt. Allerdings trug sie Jeans und Pulli, während das Kleid, das sie am Abend hatte anziehen wollen, an der Tür des Kleiderschranks hing. Die junge Verkäuferin fragte sich seit geraumer Zeit, ob sie überhaupt zum Tanz gehen sollte.
Wie konnte sie sich vergnügen, wenn sie wußte, mit welchem Schicksal der geliebte Mann zu kämpfen hatte?
Lisa saß auf ihrem Bett und starrte die Wand an. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und am liebsten wäre sie gleich zu Florian gelaufen um ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebe und daß sie bereit wäre, sein Schicksal zu teilen und ihm beizustehen.
Aber durfte sie das überhaupt? Er ahnte doch gar nichts von ihren Gefühlen, ihm gegenüber.
So sehr sie auch grübelte, es wollte ihr nicht einfallen, was sie machen sollte. Noch einmal ließ sie den Tag Revue passieren. Angefangen beim Frühstück, bei dem sie und die beiden Freunde noch ungezwungen gescherzt hatten. Dann die Überraschung, daß ihr Bergführer sich als Pfarrer herausstellte. Der wunderschöne Aufstieg kam ihr in den Sinn, die herrliche Rast und das tolle Essen auf der Almhütte.
Bis zu diesem Zeitpunkt schien die Welt noch in Ordnung. Doch mit Sepps Liebeserklärung änderte sich auf einen Schlag alles. Eigentlich mußte sie ihm dankbar sein, daß er sich ihr offenbarte. Sonst hätte sie ihm gegenüber niemals zugegeben, daß es Florian war, dem ihre Liebe gehörte und nicht von dessen Krankheit erfahren.
Doch was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie sich verhalten? Durfte sie Florian sagen, was sie für ihm empfand?
Lisa wußte es nicht. Aber ihr war auch klar, daß sie dringend eines Rates bedurfte. Doch an wen sollte sie sich da wenden?
Sie hatten zwar zu den anderen Teilnehmern der Reisegesellschaft auch einen guten Kontakt, aber gewiß war niemand darunter, dem sie sich anvertraut hätte. Wenn überhaupt, dann gab es nur einen Menschen, den sie auf ihr Problem ansprechen würde – diesen wunderbaren Pfarrer Trenker, der so ganz anders war, als all die anderen Geistlichen, die Lisa kannte.
Sie erinnerte sich, wie er sie in der Käserei angesprochen und sich teilnahmsvoll nach ihrem Befinden erkundigt hatte.
War es ein so abwegiger Gedanke, ihn um Rat zu fragen?
Wie elektrisiert sprang sie auf. Was eben noch ein Gedankenblitz war, reifte zu einer Idee heran. Sie mußte zur Kirche hinüberlaufen und mit Pfarrer Trenker sprechen. Wenn es einen Menschen gab, den sie um Rat fragen konnte, dann war er es. So unkonventionell, wie sie ihn kennengelernt hatte, schien es ihr leicht, sich ihm gegenüber zu öffnen und von ihren Ängsten und Sorgen zu sprechen. Er hatte eine Art, die es ihm ermöglichte, die Herzen der Menschen zu erreichen, und auch sie fühlte sich davon angesprochen.
Bis zum Abendessen war es noch eine gute Stunde. Die hübsche Verkäuferin schlüpfte in ihre Schuhe und zog eine Jacke über. Schnell lief sie die Treppe hinunter, eilte durch die Hotelhalle und trat hinaus auf die Straße.
Die Sonne schien immer noch, ihre Strahlen ließen die weißen Giebel der Häuser glänzen, und das Grün der Bäume und Wiesen leuchten. Lisa sah sich um und atmete tief ein.
Wie hatte Florian noch gesagt? Die Welt sei wunderschön. Und das