Sie lief über die Straße, den Kiesweg hinauf und kam, außer Atem bei der Kirche an. Ihr Herz klopfte, als sie die Tür öffnete und eintrat.
*
»Sag’ mal, was ist denn mit dir los?«
Florian Brunner sah den Freund forschend an. Seit sie von der Bergtour zurück waren, benahm sich Sepp irgendwie eigenartig.
Nein, wenn er es recht bedachte, dann gab er sich schon auf der Hütte so. Ob es etwas mit Lisa zu tun hatte? Natürlich hatte Florian registriert, daß der Freund und das Madel nach dem Essen einen Spaziergang unternommen hatten.
»Hast’ vielleicht mit Lisa geredet?«
Sepp saß am Fenster und starrte hinaus. Florian hatte die kleine Ledertasche aus dem Schrank geholt, in der er seine Medikamente aufbewahrte. Zwölf verschiedene Tabletten mußte er täglich schlucken, jeweils zu unterschiedlichen Zeiten. Mal vor dem Essen, mal danach, dann wieder zwischendurch oder vor dem Schlafengehen. Inzwischen hatte er sich an die Prozedur gewöhnt. Er nahm sie ein, und die Frage nach eventuellen Nebenschäden stellte er längst nicht mehr. Es war ihm klar, daß sein Leben am seidenen Faden hing, der unweigerlich riß, sollte er die Tabletten einfach absetzen.
Florian nahm ein Glas und schenkte Mineralwasser aus einer Flasche ein, die auf dem Tisch stand.
»He, ich hab’ dich was gefragt«, sagte er nach der Einnahme und stieß den Freund an.
Endlich drehte Sepp den Kopf und blickte ihn an.
»Ja«, nickte er, »ich hab’ mit ihr gesprochen.«
»Und?«
Er zuckte die Schulter.
»Nix und«, erwiderte er. »Sie mag mich, hat sie gesagt. Aber nur, wie einen guten Freund..., sie liebt nämlich dich...«
Florian riß die Augen auf und schluckte.
»Mich...?« fragte er, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte.
Sein Herz jubilierte. Sie liebt mich, dachte er. Dieses wunderbare, hübsche Madel liebt mich!
Gleichzeitig zeigte sich ein wehmütiger Zug auf seinem Gesicht. Es war ja aussichtslos! Wie sollte aus dieser Liebe etwas werden, wenn sie erst einmal erfuhr, was mit ihm los war? Niemand konnte sagen, wie lange ihnen eine gemeinsame Zukunft beschert war...
»Sie weiß es«, hörte er Sepp sagen, als habe dieser seine Gedanken gelesen.
»Sie weiß es? Aber warum...«
Wieder nickte der Freund. Sepp stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Verzeih’ mir«, bat er, »aber ich mußte es ihr sagen. Ich denk’ Lisa soll wissen, woran sie ist.«
Florian sagte nichts. Sepp hingegen war nicht mehr sicher, ob es wirklich richtig war, was er getan hatte.
»Sag’ was«, bat er. »Irgend- was. Beschimpf’ mich, von mir aus, aber sag’ irgendwas!«
Der Freund lächelte.
»Schon gut«, antwortete er. »Ich bin dir net bös’ deswegen.«
»Ach, Flori’«, stöhnte Sepp. »Warum mußte es nur so kommen? Wir hatten doch noch soviel vor! Diese verfluchte Krankheit!«
Sie blickten sich an, und Florian sah die Tränen in den Augen des Freundes. Seine Hand legte sich um den Kopf des anderen und zog ihn zu sich heran. Sie umarmten sich, und während Sepp hemmungslos weinte, strich Florian ihm tröstend über das Haar.
»Zu blöd’«, schniefte Sepp plötzlich. »Da heul’ ich, und du mußt mich trösten, dabei bist du’s doch, der Zuspruch braucht.«
Trotz der schweren Last, die auf ihm lag, gelang es dem Kranken zu lächeln.
»Was immer auch kommen mag. Sepp, ich bin froh dich kennengelernt, und in dir einen guten Freund gefunden zu haben. Dafür dank’ ich dir, und für die schöne Zeit, die wir zusammen hatten.«
Er gab ihm einen freundschaftlichen Knuff.
»Kopf hoch, alter Junge«, sagte er. »Noch ist’s ja net soweit. Heut’ abend woll’n wir erstmal das gute Essen genießen und dann das Tanzbein schwingen.«
»Ich weiß gar net, wie du so fröhlich sein kannst«, meinte Sepp. »Ich an deiner Stelle hätt’ mich wahrscheinlich irgendwo verkrochen...«
»Und abgewartet, was geschieht? Nein, ich denk’ gar net d’ran. Solang’ noch ein Funken Leben in mir ist, will ich alles mitnehmen, was das Leben zu bieten hat.«
Er zog den Freund mit zum Fenster und zeigte auf die Berge.
»Weißt’ was? Eines ist mir heut’ aufgegangen, als wir diese schöne Tour gemacht haben – man kann vor seinem Schicksal net davonlaufen. Aber das Beste daraus machen. Und das will ich tun. Darum geh’n wir beide heut’ abend zum Tanz. Was morgen ist, daran woll’n wir net denken. ›Carpe diem‹ – nutze den Tag, das sollten wir uns immer vor Augen halten. Und jetzt komm’, mach net so ein Gesicht, sonst find’ st’ nachher keine Tanzpartnerin.«
»Und – was ist mir ihr?«
»Lisa?«
Florian zuckte die Schulter.
»Du hast sicher schon geahnt, daß ich mich in sie verguckt hab’«, gab er zu. »Wir werden seh’n, was der Abend bringt.«
Er sprach nicht weiter, sondern schaute hinaus. Doch sein Blick ging weiter, als sehe er in die Zukunft.
Vielleicht, dachte er voller Hoffnung, vielleicht ist mir noch ein kleines bissel Glück vergönnt.
*
Lisa betrat das Seitenschiff und ging weiter bis in die Ecke, in der die Mutter Gottes auf einem kleinen Altar stand. Unzählige Kerzen leuchteten hier zum Gedenken Verstorbener, oder zur Fürbitte. Die junge Frau nahm eine Kerze aus dem Behältnis und entzündete sie an der Flamme einer anderen. Dann kniete sie vor dem Altar und sprach ein stummes Gebet. Sie bat um Kraft und Hoffnung für sich, und vor allem für den Mann ihres Herzens.
Nachdem sie ihr Gebet verrichtet hatte, stand sie auf und sah sich um. Pfarrer Trenker konnte sie nirgendwo sehen. Aber sie hörte Geräusche aus dem Raum hinter der Tür, neben der das Bild hing, das sie gestern betrachtet hatte. Sie ging hinüber und klopfte an. Das Gesicht des Geistlichen zeigte keine Überraschung, als er öffnete und sie erkannte.
»Fräulein Kramer, net wahr?« sagte er. »Ich hab’ Sie schon erwartet.«
Sie war überrascht.
»Sagen S’ doch einfach Lisa«, bat sie. »Sie haben mich erwartet? Woher...?«
»Woher ich wußte, daß Sie kommen würden?«
Sebastian zuckte die Schulter.
»Nennen S’ Eingebung, oder ganz einfach Menschenkenntnis. Heut’ mittag, auf der Hütte, als ich Sie ansprach, da hatte ich das Gefühl, daß es irgend etwas gibt, das Sie bedrückt.
Hat’s was mit dem jungen Mann zu tun? Mit dem Florian Brunner?«
Lisa kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. War der Mann Hellseher?
»Das wissen S’ auch?«
Der gute Hirte von St. Johann ahnte, was in der Besucherin vorging.
»Ich bin halt ein guter Beobachter«, sagte er. »Und ich kann eins und eins zusammenzählen.«
Er machte eine einladende Handbewegung.
»Kommen S’, setzen wir uns einen Moment. Bis zur Abendmesse ist’s noch ein bissel Zeit.«
Sie setzten sich an den Tisch, in der Sakristei.
»Nach einer unglücklichen Liebe sieht’s mir aber net aus«, mutmaßte Sebastian.