Bei seinem ersten Besuch hatte er davon gehört.
»Den Brandhuber-Loisl, ja«, nickte der junge Arzt. »Wenn ich nur an ihn denk’, könnt’ ich in die Luft geh’n!«
»Was ist denn das für einer?« wollte Robert Feldmann wissen. »Der Mann muß ja gemeingefährlich sein, wenn sogar der Löwenwirt seine Gäste vor ihm warnt.«
»Na ja, so drastisch würd’ ich’s net nennen«, sagte Sebastian. »Seine Wundermittel taugen nämlich nix, aber sie schaden auch net. Das tragische daran ist nur, daß immer wieder Leute viel Geld für diesen Schwindel ausgeben. Genausogut könnten s’ es auch zum Fenster hinauswerfen.«
Während die beiden Ärzte und der Polizist noch weiter über dieses Thema diskutierten, wandten Sebastian und Robert sich wieder der Karte zu. Schnell wurden sie sich einig und freuten sich auf die gemeinsame Tour.
Insbesondere der Bergpfarrer versprach sich einiges von diesem Aufstieg. Immer noch war er überzeugt, daß es etwas im Leben von Robert Feldmann gab, daß diesen sympathischen jungen Mann schwer zu schaffen machte. Und das wollte der gute Hirte von St. Johann herausfinden.
*
»Bringen S’ nur keinen Proviant mit«, hatte Sebastian Robert geraten. »Was meine Haushälterin immer einpackt, reicht für drei!«
So hatte der junge Werbefachmann nur eine Tasse Kaffee getrunken und eine halbe Semmel gegessen, um nicht mit gänzlich leerem Magen loszuziehen. Der Morgen dämmerte gerade erst heran, als die beiden Männer sich vor dem Hotel trafen. Mit dem Wagen des Geistlichen fuhren sie durch das noch still daliegende Dorf und verließen es in Richtung des Koglers. Unterhalb des Berges gab es einen großen Parkplatz, auf dem die Wanderer und Kletterer ihre Autos abstellen konnten. Besonders an den Wochenenden war die Gegend hier ein beliebtes Ausflugsziel. An diesem frühen Morgen jedoch war der Parkplatz noch menschenleer. Leichte Nebelschwaden stiegen aus dem Tal auf, und es war noch recht kalt. Doch es versprach, ein schöner Sonnentag zu werden.
»Auf der and’ren Seite ist schon Österreich«, erklärte Sebastian seinem Begleiter.
Während er den Rucksack mit der Ausrüstung trug, übernahm Robert es, den Proviant zu tragen. Vorerst ging es einen noch recht breiten Wanderweg hinauf, der ohne große Mühe zu bewältigen war.
»Früher bin ich oft mit den Eltern ins Allgäu gefahren«, erzählte der Jüngere. »Es waren immer sehr schöne Erlebnisse.«
»Ihre Eltern leben noch?«
»Ja, und erfreu’n sich bester Gesundheit. Sie wohnen am Rande von München, in einer ruhigen Gegend.«
Die beiden Männer wanderten langsam, es trieb sie ja nichts zur Eile an. Zwischendurch wies Sebastian auf Besonderheiten hin. Mal war es eine seltene Pflanze, dann wieder ein ansonsten scheues Tier, das sich ihnen zeigte, oder ein besonders schöner Blick über das Wachnertal.
Robert hatte seinen Fotoapparat aus der Hülle geholt und machte eifrig Bilder. Als sie eine gute Stunde unterwegs waren, schob sich langsam die Sonne über den Horizont, um schließlich als glut-roter Ball am Himmel zu stehen.
»Einzigartig schön!« kommentierte der junge Mann.
Dem konnte der Bergpfarrer nur zustimmen. Unzählige Male hatte er den Sonnenaufgang schon in luftiger Höhe erlebt, aber auch für ihn war es immer wieder ein wunderbares Schauspiel.
Von Ferne ertönte ein gewaltiges Rauschen, als sie sich der Kachlachklamm näherten. Von der »Nonnenhöhe« führte ein Weg dorthin.
»Das kann einem ja wirklich Angst machen«, rief Robert Feldmann, als sie an der Schlucht standen und in die Tiefe blickten.
Durch das gewaltige Tosen des Gebirgswassers konnten sie sich nur durch lautes Rufen verständigen.
»Ja, da sieht man erst, welche Macht Wasser hat«, erwiderte der Geistliche.
Er deutete auf die andere Seite.
»Kommen S’, Robert, wir müssen da hinüber.«
Sicheren Fußes betrat er die Holzkonstruktion.
»Keine Bange, die hält«, meinte Sebastian zuversichtlich.
Robert wollte ihm gerne glauben, es war auch nicht so, daß er wirklich Angst gehabt hätte, doch irgendwie kam ihm die Brücke über die Kachlachklamm eher winzig vor, angesichts des rauschenden Wassers.
Drüben angekommen, schlug der Geistliche vor, noch ein paar Minuten zu wandern und dann eine erste Rast einzulegen. Am Fuße einer Felswand ließen sie sich schließlich nieder und packten aus, was Sophie Tappert ihnen mitgegeben hatte. Der junge Werbefachmann staunte nicht schlecht, als er den Rucksack öffnete.
»Du liebe Güte«, entfuhr es ihm. »Wer soll das denn alles essen?«
»Ich hab’s Ihnen ja gesagt«, lachte Sebastian. »Aber keine Sorge. Sie werden seh’n, wie’s Ihnen schmeckt, und wie schnell die belegten Brote abnehmen.«
Der gute Hirte von St. Johann sollte recht behalten. Er schenkte Kaffee aus der Thermoskanne ein. Robert nahm den dampfenden Becher entgegen und reichte ihm ein Päckchen mit Brot.
»Köstlich, dieser Bergkäse«, rief er aus, nachdem er gekostet hatte.
»Ja, der Thurecker-Franz versteht was von seinem Handwerk«, nickte der Seelsorger. »Aber es gibt noch einige Senner mehr, die allesamt guten Käse machen können. Das ist schon was and’res, als der, welcher industriell hergestellt wird.«
Robert blickte versonnen in die Ferne.
Der Thurecker, die Kandereralm, Franzi.
Seit ihrem Anruf gestern, und nachdem sie seine Einladung angenommen hatte, konnte er den Samstag gar nicht mehr abwarten. Selbst bis morgen, wo er wieder zur Almhütte hinauf wollte, war es ihm zu lang.
Und doch fürchtete er sich vor dem Wiedersehen, und davor, daß er sich nicht in der Gewalt haben könne, sondern dem Charme des Madels erliegen würde.
Daß er Franzi liebte, stand für ihn außer Frage. Aber da war immer noch das düstere Erbe aus seiner Vergangenheit!
Und er sah sich außerstande, diesen Schwur zu brechen…
Sebastian fiel natürlich auf, daß sein Begleiter schweigsam und nachdenklich geworden war. Als er ihn darauf ansprach, sah Robert Feldmann ihn an und nickte.
»Ja, Hochwürden, ich denk’ wirklich über eine Sache nach«, gestand er. »Ein Problem, das ich schon lang’ mit mir herumschlepp’. Manchmal hab’ ich gedacht, ich hätt’ mich damit abgefunden, doch dann taucht plötzlich etwas in meinem Leben auf, und es wird größer, als je zuvor.«
Sebastian Trenker sah den jungen Mann fragend an.
»Möchten S’ darüber reden?«
Robert holte tief Luft.
»Ja, Hochwürden, sehr gern sogar«, antwortete er. »Es brennt mir auf der Seele.«
*
Für Franzi wollte die Zeit einfach nicht vorübergehen! Bis morgen sollte sie warten, bis sie Robert erst wiedersehen konnte, und die Minuten und Stunden schleppten sich dahin. Schließlich stürzte sie sich in die Arbeit, um sich abzulenken.
Franz Thurecker schaute verwundert, als seine Nichte damit begann, die vier kleinen Zimmer, in denen Wanderer über Nacht bleiben konnten, aufzuräumen und gründlich zu putzen.
»Haben wir das net erst in der letzten Woche gemacht?« fragte er.
Das Madel zuckte die Schulter.
»Jetzt hab’ ich aber gerad’ Zeit und Lust dazu«, gab Franzi zurück.
Anschließend stellte sie den großen Gastraum in der Hütte auf den Kopf. Die Stühle wurden hochgestellt, der Boden gefegt und gewischt, Fensterbänke, Tresen und Büffet abgestaubt, und schließlich nahm sie die karierten Vorhänge