»Ich bin Dr. Scheibler, der Chefarzt dieser Klinik«, stellte er sich vor.
»Hannelore Jung«, erwiderte die junge Frau leise, wobei sich in ihrem Gesicht noch immer Schmerzen abzeichneten.
»Keine Sorge, Frau Jung«, beruhigte Dr. Scheibler sie. »Sie sind hier in guten Händen.« Er schwieg kurz. »Haben Sie Ihren Mutterpaß bei sich?«
Hannelore zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich war bei keinem Arzt.«
Entsetzt starrte Dr. Scheibler sie an, ging aber dann nicht näher auf diesen in seinen Augen unverzeihlichen Leichtsinn ein, sondern erkundigte sich: »Wann hatten Sie zuletzt ihre Tage?«
Nach kurzem Überlegen nannte Hannelore ihm das Datum. Dr. Scheibler rechnete rasch nach und kam zu dem Ergebnis, daß die junge Frau jetzt etwa in der achtzehnten Schwangerschaftswoche sein mußte. Vorsichtig tastete er nach dem Blinddarm und stellte fest, daß die Bauchdecke in diesem Bereich hart und angespannt war. Als er leichten Druck ausübte, zuckte die Patientin zusammen.
»Mußten Sie sich übergeben?« wollte Dr. Scheibler wissen.
Hannelore nickte. »Zweimal.« Sie schwieg kurz. »Mein Mann hat vier Semester Medizin studiert, bevor er auf Jura umsattelte. Er meint, es könnte nur der Blinddarm sein.«
Der Chefarzt nickte. »Das ist vermutlich sogar richtig, aber ich kann auch andere Ursachen noch nicht völlig ausschließen. Ich werde mir Ihren Bauch auf Ultraschall ansehen und dann entscheiden, ob wir operieren müssen.«
»Wäre das… gefährlich? Ich meine… für das Baby?«
Dr. Scheibler blickte die junge Frau an. »Ich will Sie zwar nicht kritisieren, aber aufgrund der Tatsache, daß Sie in achtzehn Wochen nicht ein einziges Mal beim Arzt waren, sich also um das Gedeihen Ihres Kindes wohl nicht allzu viele Gedanken gemacht haben, kann ich Ihre jetzige Sorge nicht ganz nachvollziehen.«
Hannelore errötete. »Ich weiß schon, was Sie jetzt von mir denken, aber… es ist alles ganz anders…«
»Im Moment haben wir leider keine Zeit, um eingehender darüber zu sprechen«, meinte Dr. Scheibler, dann verteilte er das spezielle Gel auf dem Bauch der Patientin und ließ den Schallkopf darübergleiten. Ursprünglich hatte er sichergehen wollen, daß keine gestielte Eierstockzyste die Ursache für den akuten Bauch der jungen Frau wäre, doch was er jetzt entdeckte, war noch weit besorgniserregender.
»Das Team steht bereit«, meldete Oberschwester Lena in diesem Moment. Zögernd trat sie näher und wollte gerade etwas sagen, doch Dr. Scheibler kam ihr zuvor.
»Rufen Sie bitte Dr. Daniel her, schnell«, drängte er.
Lena warf der Patientin einen raschen, überaus besorgten Blick zu, leistete der Aufforderung des Chefarztes aber unverzüglich Folge und eilte in den Nebenraum.
In der Praxis von Dr. Robert Daniel meldete sich wie immer die junge Empfangsdame Gabi Meindl. Oberschwester Lena hielt sich gar nicht damit auf, sich weiterverbinden zu lassen.
»Fräulein Meindl, hier ist Lena Kaufmann«, gab sie sich zu erkennen. »Schicken Sie Dr. Daniel bitte unverzüglich in die WaldseeKlinik. Ein dringender Notfall.«
Dann legte sie auf und blieb mit bebenden Händen neben dem Telefon stehen.
»Was ist denn nun mit Hanni?« erklang hinter ihr plötzlich eine ungeduldige Männerstimme.
Lena drehte sich um und sah sich unvermittelt ihrem Schwiegersohn Harald Jung gegenüber.
»Das fragst du ausgerechnet mich?« entgegnete sie in eigenartigem Ton, bevor sie voller Bitterkeit hinzufügte: »In den letzten Jahren war ich doch immer die Letzte, die etwas über Hanni erfahren hat.«
»Müssen wir das etwa jetzt ausdiskutieren?« fragte Harald gereizt.
Lena senkte den Kopf. »Hanni ist meine Tochter…«
»Stieftochter«, verbesserte Harald nachdrücklich. »Und das hast du sie auch immer spüren lassen.«
»Das ist nicht wahr!« verteidigte sich Lena. »Das bildet sich Hanni erst ein, seit sie weiß, daß sie nicht meine leibliche Tochter ist, aber…« Mit plötzlicher Niedergeschlagenheit winkte sie ab. »Was rede ich überhaupt. Ihr glaubt mir ja sowieso nicht.«
Sie drückte sich an Harald vorbei auf den Flur und sah im selben Moment Dr. Daniel durch die undurchsichtige Glastür kommen. Spontan eilte sie ihm entgegen.
»Eine schwangere Patientin mit Verdacht auf akute Appendizitis«, informierte sie ihn sofort.
Dr. Daniel kannte Lena Kaufmann lange genug, um ihren verstörten Gesichtsausdruck zu bemerken. Immerhin hatte sie lange als Sprechstundenhilfe in seiner Praxis gearbeitet. Seit Eröffnung der WaldseeKlinik war sie nun hier als Oberschwester tätig, trotzdem bestand zwischen ihr und Dr. Daniel noch eine gewisse Vertrautheit, die von jahrelanger Zusammenarbeit herrührte.
»Ist alles in Ordnung, Frau Kaufmann?« fragte er besorgt, während er an ihrer Seite zur Notaufnahme eilte.
Lena nickte nur, und dann gab es für Dr. Daniel ohnehin keine Möglichkeit mehr nachzuhaken, denn Dr. Scheibler kam ihm schon entgegen.
»Robert, gut, daß Sie so schnell kommen konnten«, meinte er und dämpfte seine Stimme. »Ich habe da drinnen eine Patientin mit einer akuten Appendizitis, aber das ist noch nicht das Schlimmste. Sie ist ungefähr in der achtzehnten Schwangerschaftswoche, doch der Fetus…« Er schwieg kurz. »Zuerst ist mir nur aufgefallen, daß er zu klein ist, aber bei näherem Hinsehen… er bewegt sich nicht, und es ist auch keine Herztätigkeit auszumachen.«
Erschrocken preßte Lena eine Hand vor den Mund. Erstaunt sahen die beiden Ärzte sie an, doch bevor einer von ihnen auch nur eine Frage stellen konnte, lief die Oberschwester bereits in Richtung Eingangshalle davon.
Dr. Daniel wäre ihr gerne gefolgt, doch im Moment war die Patientin einfach wichtiger.
»Weiß sie es schon?« fragte er.
Dr. Scheibler schüttelte den Kopf. »Ich möchte, daß Sie sich das vorher auch noch anschauen. Vielleicht habe ich mich ja getäuscht.«
Das hielt Dr. Daniel allerdings für sehr unwahrscheinlich, denn Dr. Scheibler war nicht nur ein erstklassiger Chirurg, sondern verfügte auch auf gynäkologischem Gebiet über viel Erfahrung. Immerhin hatte er einige Jahre in der ThierschKlinik gearbeitet, und der dortige Chefarzt, Professor Rudolf Thiersch, verlangte seinen Ärzten wirklich alles ab.
Dr. Daniel betrat die Notaufnahme, stellte sich der jungen Frau vor und machte dann seinerseits noch eine Ultraschallaufnahme, die Dr. Scheiblers Diagnose aber bestätigte.
»Frau Jung, ich habe da eine sehr schlimme Nachricht für Sie«, begann Dr. Daniel so behutsam, wie es in diesem Fall überhaupt möglich war.
Hannelore erschrak. »Ist mein Kind behindert?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Jung, es geht um etwas völlig anderes.« Er überlegte einen Moment, doch es gab keine schonende Art, ihr die Wahrheit beizubringen – schon gar nicht, wenn es so eilte wie jetzt. »Die Aufnahmen, die Dr. Scheibler und ich gemacht haben, bestätigen, daß das Ungeborene… nicht mehr am Leben ist.«
Aus weit aufgerissenen Augen starrte Hannelore den Arzt an, dann schüttelte sie den Kopf – erst langsam, dann immer heftiger.
»Das glaube ich nicht!« stieß sie hervor. »Das hat sie Ihnen nur eingeredet! Sie kann es nicht ertragen, daß ich ein Kind bekomme! Sie kann es nicht ertragen, weil ihre leibliche Tochter unfruchtbar ist!«
»Wer kann das nicht ertragen?« hakte Dr. Daniel vorsichtig nach.
»Meine Stiefmutter! Sie will, daß Sie mein Kind abtreiben! Wieviel bezahlt sie Ihnen dafür?«
»Frau Jung, beruhigen Sie sich doch«, bat Dr. Daniel in seiner warmherzigen Art, die in seinen Patientinnen normalerweise so viel Vertrauen weckte, aber