Zu guter Letzt besuchte er dann Nikola im Krankenhaus – einen Tag bevor sie entlassen werden sollte. Ihr ganzes Gesicht strahlte, als Ivo so unverhofft ihr Zimmer betrat.
»Ivo, wie schön, daß Sie doch noch kommen«, bedeutete sie ihm. »Ich dachte schon, Kai hätte Sie endgültig vertrieben. Er ist schrecklich eifersüchtig, wissen Sie.«
Ivo streichelte sie mit Blicken. »Wer wäre das an seiner Stelle nicht?« Er zögerte kurz, bevor er mit seinen Händen die Frage formte, die ihm im Herzen brannte: »Seit wann kennen Sie ihn?«
»Seit drei Jahren«, antwortete Nikola.
Ivo wollte seine Enttäuschung nicht zeigen. Er hatte gehofft, durch Nikola vielleicht etwas über Kais wahre Identität herauszubekommen, aber damit war nun nicht mehr zu rechnen. Sekundenlang spielte er mit dem Gedanken, Nikola zu sagen, was er über ihren Verlobten herausgefunden hatte, doch letztlich ließ er es bleiben. Falls Kai diese neue Identität auf legale Weise bekommen hatte, was ja nicht ausgeschlossen war, könnte ihn das, was Ivo herausgefunden hatte, womöglich gefährden. Nun war es ja nicht so, daß ihm an Kai besonders viel gelegen hätte – ganz im Gegenteil, aber Nikola, die diesen Mann ja liebte, würde eben auch darunter leiden, und das wollte Ivo auf keinen Fall.
»Sie werden morgen entlassen, nicht wahr?« erkundigte sich Ivo.
Nikola nickte.
»Darf ich Sie wiedersehen?« setzte Ivo nach einigem Zögern hinzu.
Nikola senkte den Blick, dann schüttelte sie nur den Kopf. Sehr sanft legte Ivo eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie auf diese Weise, ihn anzusehen.
»Niki.«
Diesmal sprach er es aus – zärtlich, voller Liebe, und obwohl Nikola es nicht hören konnte, sah sie doch seinen Gesichtsausdruck, spürte die Gefühle, die er ihr mit diesem einen Wort entgegenbrachte. Wieder schüttelte sie den Kopf, dann umschloß sie sein Gesicht mit beiden Händen, während in ihren Augen stand, was sie dachte: Es darf nicht sein.
»Du empfindest mehr für mich als nur Sympathie«, behauptete Ivo kühn.
»Ich bin verlobt«, erwiderte sie, dann ließ sie kraftlos die Hände sinken, weil sie fühlte, wie schwach ihr Gegenargument im Grunde war. Sie hätte auf seine Bemerkung ganz anders reagieren müssen… hätte ihm klarmachen müssen, daß sie ihn zwar mochte, aber Kai liebte. Das Problem war nur… sie war sich da plötzlich gar nicht mehr so sicher. In den vergangenen Tagen hatte sie Ivos Lachen so sehr vermißt und – nicht nur sein Lachen. Er war wie eine Sonne in ihr Leben getreten – hell, klar und leuchtend. Er hatte ihr Fröhlichkeit gezeigt, aber auch tiefe Gefühle. In den wenigen Stunden, die sie mit ihm zusammengewesen war, hatte sie die Erfahrung eines völlig neuen Lebens gemacht.
Ivo spürte, was in ihr vorging. Er konnte ihre Empfindungen so sicher einschätzen, als lägen ihre Gedanken wie ein offenes Buch vor ihm. Spontan setzte er sich auf ihr Bett und schloß sie zärtlich in die Arme. Nikola ließ es nicht nur geschehen, sie hatte diese Umarmung ersehnt – vom ersten Augenblick an, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Nun genoß sie seine Wärme, seine Nähe, den herben Duft seiner Haut, den sie trotz des Flanellhemdes spürte. In seinen Armen fühlte sie sich zum ersten Mal seit langem wieder sicher und geborgen. Zufrieden schloß sie die Augen und gab sich ganz dem hin, was sie empfand. Sie spürte, daß er ihr etwas sagen wollte, öffnete die Augen und hob ihren Kopf so weit, daß sie von seinen Lippen ablesen konnte.
»Niki, ich liebe dich.«
Sie schmiegte ihr Gesicht wieder an seine Brust. Eine deutlichere Antwort hätte sie nicht geben können, doch obwohl sie wußte, daß ihr Gefühl richtig und gut war, wurde sie von einem schlechten Gewissen erfaßt. Sehr zögernd löste sie sich von Ivo, blickte in sein Gesicht und wußte, daß sie mit ihm darüber nicht sprechen konnte. Er würde nicht objektiv sein, weil er sie liebte.
»Ich muß zu Dr. Daniel«, signalisierte sie ihm.
Ivo nickte. »Ich bringe dich zu ihm.« Er erkannte die Abwehr auf ihrem Gesicht und lächelte sie beruhigend an. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, wie ein Wachhund neben dir zu sitzen. Ich bringe dich nur zu seinem Büro.«
Mit den Fingern berührte Nikola seine Lippen, als wolle sie sein Lächeln festhalten. Das hätte sie auch am liebsten getan. Sie liebte sein Lächeln. Es wärmte ihr Herz und machte sie von innen heraus so leicht und frei, daß sie das Gefühl hatte, auf einer Wolke zu schweben.
Mit sanfter, unaufdringlicher Zärtlichkeit begleitete Ivo sie zum Büro des Klinikdirektors, doch es stand leer.
»Dr. Daniel ist noch in der Praxis«, erklärte Oberschwester Lena Kaufmann.
»Fräulein Forster möchte dringend mit ihm sprechen«, entgegnete Ivo.
»Ich werde es ihm ausrichten«, versicherte die Oberschwester. »Er wird zu ihr kommen, sobald er im Haus ist.«
*
Als Dr. Daniel an diesem Abend in die Klinik kam, erfuhr er tatsächlich sofort, daß Nikola ihn sprechen wollte und eilte mit einer unbestimmten Angst im Herzen zu ihr. Seit er wußte, daß Kai Horstmann eine vermutlich recht dunkle Vergangenheit hatte, war seine Sorge um Nikola noch gestiegen.
»Ist etwas passiert?« fragte er in banger Erwartung, als er ihr Zimmer betreten hatte und den ernsten Gesichtsausdruck der jungen Frau sah.
Sie nickte, griff nach ihrem Block und schrieb: Ich habe mich in Ivo Kersten verliebt. Sie strich die Worte durch und verbesserte: Ich liebe Ivo.
Dr. Daniel verstand, was sie damit ausdrücken wollte. Eine Verliebtheit konnte vorübergehend sein, doch das, was sie fühlte, war offensichtlich dauerhaft gemeint.
Ich komme mir niederträchtig vor, fuhr sie fort zu schreiben. Noch gestern habe ich zu Kai gesagt, ich würde ihn lieben, dabei hatte ich in Wahrheit bereits Sehnsucht nach Ivo. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber… Sie ließ den Stift sinken.
»Ich verstehe Ihren Zwiespalt gut«, meinte Dr. Daniel. »Eine Verlobung ist ein Schritt, den man nur geht, wenn man sich seiner Liebe wirklich sicher ist. Allerdings – einen Irrtum der Gefühle kann es immer geben. Bestimmt waren Sie sicher, daß es nichts geben würde, was zwischen Sie und Kai treten könnte, und nun ist es doch passiert. Ebenso kann Ihnen niemand garantieren, daß Ivo der Richtige ist.«
Ein sanftes Lächeln huschte über Nikolas Gesicht. Wieder griff sie nach Block und Stift. Er ist so fröhlich. Wenn er bei mir ist, dann fühle ich mich frei. Sie zögerte einen Moment, ehe sie weiterschrieb: Heute hat er mich umarmt. Es war ein wundervolles Gefühl.
Dr. Daniel las die Worte und mußte unwillkürlich an das denken, was Nikola ihm in den vergangenen beiden Wochen immer wieder mitgeteilt hatte. Sie hatte Kais Umarmungen nicht ertragen können, weil sie dabei immer an die Vergewaltigung hatte denken müssen.
»Weckte die Nähe eines Mannes denn keine unangenehmen Erinnerungen mehr in Ihnen?« fragte Dr. Daniel und wählte seine Worte dabei besonders bedächtig. Er wollte nicht die Unterscheidung zwischen Kai und Ivo machen, sondern ganz allgemein Nikolas Verhältnis zu Männern ergründen.
Allerdings begriff die junge Frau auch so den tieferen Sinn dieser Frage. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie den Arzt an.
Was bedeutet es, wenn ich Kais Nähe nicht ertragen kann, mich bei Ivo aber sicher und geborgen fühle? wollte sie wissen.
Dr. Daniel las das Geschriebene, dann zuckte er die Schultern. »Ich weiß es nicht, Nikola. Vielleicht ist es einfach eine Reaktion, weil Sie mit Kai zum Zeitpunkt ihrer Vergewaltigung verlobt waren.« Allerdings erschien ihm das eigentlich nicht besonders glaubhaft. Ein anderer Gedanke hatte ihn gestreift, und er war um vieles plausibler, wenn