Allerdings gingen ihr damit auch die Optionen aus. Natürlich bestand auch noch die Möglichkeit, dass jemand von der Filmcrew in die Sache verwickelt war, doch im Augenblick fiel ihr niemand ein, der dafür infrage kam. Allerdings kannte sie die Leute auch nicht gut genug, um sich ein Urteil erlauben zu können.
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Die Straßenkulisse wimmelte von Menschen. Schauspieler und Statisten bewegten sich nach den Anweisungen des Regisseurs. Kameras fuhren lautlos auf Schienen. Ein Mikrofon schwebte an einem hohen Galgen über ihren Köpfen.
Rechts war die Kulisse eines Bankgebäudes errichtet worden. Laut Drehbuch sollte in wenigen Minuten eine Bande vorfahren. Sophie Rosenbruck würde den Wagen lenken. Jannick Wolfe als Bandenboss sollte dann mit zwei seiner italienischen Komplizen in die Bank eindringen. Dieser Plan war jedoch an die Polizei verraten worden. Die Beamten umstellten das Gebäude, und es kam zu einem Schusswechsel. Eine Kugel, die aus dem gegenüberliegenden Haus abgefeuert wurde, sollte Wolfe verwunden. Mit letzter Kraft gelang es ihm jedoch, sich zum Wagen zu schleppen. Dann musste Sophie Gas geben und die Polizeiabsperrung durchbrechen.
Die nachfolgenden Einstellungen der Flucht und der Verfolgungsjagd mit Wolfes Double Simon Struck sollte am nächsten Tag außerhalb von Cinecittà gedreht werden. Drei Mal wurde die Szene geprobt, dann gab der Regisseur die letzten Anweisungen. Schauspieler und Statisten nahmen erneut ihre Plätze ein. Der Gangsterwagen mit den vier Insassen rollte an. Auf der gegenüberliegenden Seite versteckten sich die Polizisten in Hauseingängen und hinter Fenstern. Sobald die Bande aus dem Gebäude kam, sollten sie das Feuer eröffnen.
„Und Action!“, rief der Regisseur.
Der Wagen fuhr los und stoppte vor dem Bankgebäude. Wolfe und seine beiden Komplizen sprangen aus dem Fahrzeug und stürmten auf den Eingang zu. Im selben Moment begannen die Polizisten zu schießen. Einer der Komplizen schrie, drehte sich einmal um sich selbst und stürzte dann zu Boden. Der andere zog sich zu Wolfe in den Eingang zurück und erwiderte das Feuer. Während eine Kamera auf die beiden Männer zufuhr, schwenkte eine zweite zu den Polizisten hinüber. Aus einem der Fenster ragte der Lauf eines Gewehrs.
Das Drehbuch sah vor, das sich Wolfe mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Schulter fasste, seine Pistole fallen ließ und auf den Wagen zulaufen würde. Sophie Rosenbruck sollte ihm die Tür aufhalten. Er ließ sich auf den Sitz fallen, und das Fahrzeug raste mit davon. Wolfe riss vor Entsetzen die Augen auf, griff sich vor die linke Brust und stürzte zu Boden. Er ließ zwar seine Waffe fallen, doch er lief nicht auf den Wagen zu. Die Statisten feuerten noch einige Sekunden, dann merkten sie, dass etwas nicht stimmte.
Wolfe erhob sich nicht. Sophie tauchte hinter ihrer Deckung auf und der „tote“ Komplize war plötzlich wieder lebendig. Nur Jannick Wolfe kam nicht auf die Füße. Sofort ließ der Regisseur die Aufnahme abbrechen. Katharina sprang auf. Der Klappstuhl kippte und fiel polternd zu Boden. Sie rannte hinüber zum Bankeingang. Ihr war die Erkenntnis gekommen, dass Wolfe seine Rolle zu realistisch gespielt hatte. Sie kniete sich neben ihn, hob seinen Kopf an und ließ ihn behutsam wieder zurücksinken.
„Er wurde erschossen“, sagte sie mit belegter Stimme.
„Aber wir benutzen doch nur Platzpatronen“, erwiderte der Regisseur.
Katharina blickte zur gegenüberliegenden Straßenseite. „Der Schuss muss von dort drüben gekommen sein“, stellte sie fest. „Lassen Sie sämtliche Waffen einsammeln und das Gelände nach Unbefugten absuchen. Außerdem muss jemand die Polizei verständigen.“
Der Aufnahmeleiter rannte zu einem Wagen, der am Ende der Straße stand, startete den Motor und fuhr zum Gebäude des Sicherheitspersonals. Dort veranlasste er, dass sämtliche Zufahrten und Eingänge zum Filmgelände abgesperrt wurden und niemand das Areal verlassen konnte, bis die Polizei eintraf.
Katharina Ledermacher versuchte unterdessen, eine Verbindung zwischen dem Erpressungsversuch und dem Mord an Jannick Wolfe herzustellen, doch sie fand keine. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass es sich um einen Racheakt handelte. Trotzdem glaubte sie nicht so recht daran. Eine Erpressung war eine Sache, aber ein Mord ...
17
Zwanzig Minuten später traf die Polizei mit einem Großaufgebot ein. Der Tatort wurde weiträumig abgesperrt. Commissario Stefano Cariddi, ein drahtiger, mittelgroßer Mann Mitte vierzig übernahm die Ermittlungen. Aussagen wurden aufgenommen und Spuren gesichert. Schritt für Schritt arbeiteten sich die Beamten durch das Gelände. Alles, was sie finden konnten, wurde eingesammelt. Mechanisch packten sie die Fundsachen in Plastiktüten. Die Handgriffe geschahen ganz automatisch. Spuren entdecken, Spuren eintüten, Spuren auswerten. Sehr ergiebig gestaltete sich die Suche jedoch nicht. Die Polizisten sammelten Abfall, Unrat und Zigarettenstummel auf. Damit musste sich später die Kriminaltechnik herumschlagen.
Die Wissenschaftler würden nicht gerade begeistert sein, überlegte Katharina. Aber es half nichts. Schließlich bestand eine kleine Chance, dass die Suche etwas Entscheidendes zutage förderte. In Begleitung der Polizei befand sich auch ein Notarzt. Er wirkte noch recht jung. Sein Gesicht war offen und sympathisch, aber in den Winkeln der Augen hatte er blaue Schatten, die es müde aussehen ließen. Er beugte sich über die Leiche, horchte sie mit einem Stethoskop ab und fühlte den Puls.
Die Untersuchung dauerte etwa eine halbe Minute, dann erhob er sich und schüttelte den Kopf. Ein Fotograf schoss Aufnahmen, um jede Arbeitsphase zu dokumentieren. Nachdem der Arzt sich entfernt hatte, traten zwei Polizisten an den Toten heran. Der erste war untersetzt und breitbeinig, mit hängenden Armen. Er kniff die Augen zusammen wie jemand, den die Sonne blendete. Aus seiner Nase wuchsen graue Härchen.
Der andere hatte von einem Unfall eine Narbe über dem rechten Auge. Die Braue war völlig abgeschürft und bestand nur aus einem schmalen, rötlichen Strich. Der erste zeichnete die Lage des Toten mit weißer Kreide nach, während sein Kollege ihn dabei beobachtete. All die vielen kleinen Handgriffe wurden getan, die in so einem Fall nötig waren. Katharina hatte jedoch den Eindruck, dass sie ihre Arbeit ziemlich locker nahmen. Der untersetzte Beamte klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an, und ließ Rauchringe in die Luft steigen.
Cariddi sorgte dafür, dass sämtliche Schusswaffen sichergestellt wurden. Dabei kam heraus, dass eines der Gewehre fehlte. Man fand die Waffe schließlich in einem Gebüsch hinter der Häuserfassade. Katharina bezweifelte allerdings, dass irgendwelche Spuren darauf zu finden sein würden. Der Mörder hatte mit Sicherheit