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Cinecittà lag ungefähr neun Kilometer südöstlich von Rom. Eröffnet wurden die Filmstudios im Jahr 1937 durch den faschistischen Diktator Benito Mussolini. Anfangs drehte man dort nur italienische Filme. Ab den 50er und 60er Jahren kamen auch internationale Großproduktionen dazu. Einst entstanden hier Szenen legendärer Filme wie „Spiel mir das Lied vom Tod“, „Ben Hur“, „Quo Vadis“, „La Dolce Vita“ und „Für eine Handvoll Dollar“. Cinecittà-Produktionen gewannen insgesamt 51 Oscars. Doch diese Zeiten gehörten der Vergangenheit an.
In den Jahrzehnten danach wurden Großproduktionen seltener. Für die US-Studios war es kostengünstiger, Szenen mit vielen Statisten in Osteuropa zu drehen. Cinecittà stand kurz vor dem Bankrott und wurde vom Staat an ein privates Konsortium verkauft, das die Kulissen lieber für Firmenveranstaltungen nutzte. Zurzeit wurden auf dem Gelände hauptsächlich TV-Formate produziert. „Blutige Meute“ war vermutlich einer der letzten großen Filme, die in Cinecittà entstanden.
Pünktlich um sechs Uhr saßen die Schauspieler in der Maske und ließen ihre Alltagsgesichter unter fingerdicker Schminke verschwinden. Die ersten Szenen sollten im Studio gedreht werden. Bühnenarbeiter hatten die Nachbildung einer Bar aufgebaut. Es gab einige Tische, einen Tresen und ein Regal mit zahlreichen bunten Flaschen. Diese Bartheke hörte jedoch da auf, wo anderen erst richtig anfingen. Außerdem war der ganze Laden nach oben offen.
Um sieben Uhr erschien der Regisseur mit der Filmcrew. Er ließ Scheinwerfer einschalten und die Kameras hin und her fahren. Katharina Ledermacher hatte es sich in einem Klappstuhl bequem gemacht und die Beine übereinandergeschlagen. Ihre Aufgabe bestand vorerst nur darin, die abgedrehten Filmspulen in ihre Obhut zu nehmen und nicht aus den Augen zu lassen.
Um acht Uhr war immer noch nichts Entscheidendes passiert. Um viertel vor neun kam der Regieassistent mit den Statisten und wies ihnen ihre Plätze in der Kulisse zu. Kurz darauf erschien Jannick Wolfe. Er setzte sich an einen der Tische, die in der Mitte der Bar standen. Der Regisseur ließ sich in seinem Stuhl nieder. Das Skript-Girl trat neben ihn und schlug das Drehbuch auf.
„Rocco betritt die Bar und entdeckt Derek am Tresen auf einem Hocker. Er setzt sich daneben und bestellt etwas. Derek bemerkt Rocco und zieht eine Pistole. Rocco, der nicht mehr rechtzeitig zu seiner Waffe greifen kann, benutzt einen günstigen Augenblick, schüttet Derek sein Getränk ins Gesicht und überwältigt ihn.“
„Hat das jeder verstanden?“, erkundigte sich der Regisseur.
Jannick Wolfe und der andere Mann nickten.
„Dann machen wir einen Probedurchlauf.“
Ein halbes Dutzend Scheinwerfer richteten sich auf die Kulisse aus Holz, Pappe und Glasattrappen. Der Schauspieler, der Rocco darstellte, betrat die Kulisse, schwang sich auf den Hocker neben Jannick Wolfe und bestellte bei dem Mann hinter dem Tresen einen Whisky. Der Barkeeper schob ihm ein Glas mit einer farblosen Flüssigkeit hin. Jannick fuhr plötzlich herum, riss eine Pistole hervor und drückte sie dem Mann in den Bauch. Sofort schüttete ihm der andere Mann den Whisky ins Gesicht.
„Nein, nein“, rief der Regisseur. „So geht das nicht. Da muss vielmehr Dramatik drin sein. Ich mache es dir vor.“
Diesmal spielte er die Rolle von Rocco, der die Bar betrat. Er war in Hemdsärmeln, trug eine dunkle Brille und sah nicht einmal annähernd wie ein Gangster aus. Mit den Schritten eines anschleichenden Tigers kam er an die Bar, hüpfte auf den Hocker und bestellte einen Drink. Jannick zog die Waffe, der Regisseur schüttete ihm das Getränk ins Gesicht.
„Siehst du, so wird es gemacht“, strahlte er. „Und dann beginnt der Kampf, den ihr vorher mit dem Choreografen einstudiert habt. Lasst es möglichst realistisch aussehen. Los, noch eine Probe.“
Der Mann, der Rocco spielte, tat es ihm nach. Alles begann von vorne. Er kam herein, bestellte einen Whisky, Jannick zog die Pistole und bekam das Getränk ins Gesicht geschüttet. Dann gingen die beiden aufeinander los und kämpften.
„Sehr gut“, sagte der Regisseur. „Genau so machen wir es.“
Abermals nahmen die Schauspieler und Statisten ihre Positionen ein.
„Und Action!“
Rocco betrat die Bar, setzte sich wieder auf den Hocker und bestellte einen Whisky. Im nächsten Moment zog Jannick die Waffe. Rocco schüttete ihm den Whisky ins Gesicht und stürzte sich auf ihn. Mit seinem Gebrüll hätte er jeden Kampfstier aus der Arena gescheucht.
„Du Schwein! Ich mache dich fertig!“
In diesem Moment drückte Jannick ab. Zwei Schüsse ertönten, doch sein Gegner zeigte sich dadurch nicht im Mindesten beeindruckt. Mit einer schnellen Handbewegung schlug er Jannick die Waffe aus der Hand. Die beiden Männer wälzten sich über den Boden. Schließlich zog Jannick ein Messer hervor und stach zu. Roccos Blick wurde starr. Die Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. Und sein Blut war überall. Es spritzte auf den Boden und bildete dunkelrote Bäche. Rocco sackte in sich zusammen. Langsam, wie in Zeitlupe, kippte er zur Seite und blieb regungslos liegen. Eine große Blutlache bildete sich um seinen Oberkörper. Jannick kam taumelnd auf die Füße.
„Gestorben!“, rief der Regisseur. „Wir machen noch einige Nahaufnahmen und dann ist Mittagspause.“
Rocco rappelte sich aus seiner Blutlache auf und öffnete sein getränktes Hemd. Aufgeplatzte Kunststoffbeutel, in denen sich das Kunstblut befunden hatte, kamen zum Vorschein. Jannick ging zu Katharina hinüber und lächelte.
„Na, wie waren wir?“
„Es sah sehr überzeugend aus“, erwiderte sie. „Im ersten Moment dachte ich wirklich, das Messer sei echt.“
„Keine Spur. Das wäre viel zu gefährlich. Die Klinge verschwindet im Griff, wenn man damit zusticht. Alles nur Illusion.“
„Trotzdem sah es sehr realistisch aus.“
„Das erwartet das Publikum ja auch. Blut und Gewalt. Dafür gehen die Leute ins Kino.“
Davon gibt es doch schon genug in der realen Welt, dachte Katharina. Warum dafür noch bezahlen?
Die Scheinwerfer verlöschten. Das gesamte Team ging hinüber in die Kantine zum Mittagessen. Danach sollte eine Überfall-Szene gedreht werden. Katharina stocherte lustlos in ihrem Essen herum und dachte nach. Die Sache mit der Erpressung ging ihr nicht aus dem Kopf. Wer steckte dahinter? Und warum? Zuerst hatte sie an einen Versicherungsbetrug geglaubt, aber dieses Motiv schied mittlerweile aus. Joswig war ihrer Ansicht nach nicht der Typ, der so etwas machte. Mit einer verneinenden Kopfbewegung strich sie den Namen aus ihrer imaginären Liste.
Jannick Wolfe? Auch er hatte keinen Vorteil davon, wenn der Film vernichtet wurde. Zugegeben, er war kein großartiger Schauspieler und die Filme, in denen er mitwirkte, keine preisverdächtigen Meisterwerke, aber weshalb sollte er bei einer Erpressung mitmachen? Seine hohen Gagen erlaubten ihm ein luxuriöses Leben. Weshalb sollte er das aufs Spiel setzen? Katharina glaubte nicht, dass er etwas mit der Erpressung zu tun hatte. Sie strich seinen Namen, wenn auch mit gewissen Zweifeln.
Sophie Rosenbruck? Sie war zweiundzwanzig, hübsch, und die Männer flogen