Dona blickte den Boxer nur kurz und verächtlich an.
„Steh auf und mach dich fertig, rasch!“, sagte sie. „Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden.“
Der Ex-Boxmeister kam auf die Beine. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Seine kleinen, dunklen Augen richteten sich hasserfüllt auf mich.
„Wir sind nicht so sehr in Eile, wie du zu glauben scheinst“, meinte er halblaut.
„Gib mir die Kanone her, ich will mit dem Weib abrechnen!“
„Du wirst nichts dergleichen tun“, erklärte das Mädchen kühl und leicht verärgert. „Ich dulde keinen Mord!“
Er starrte sie an. „Bei dir ist wohl ’ne Schraube locker? Sie muss von der Bildfläche verschwinden! Sie weiß zu viel! Sie ist die einzige, die unser Hauptquartier kennt!“
„Unser Hauptquartier!“, echote das Mädchen verächtlich. „Was ist das schon? Eine Villa, die Paul unter einem Decknamen gemietet hat, angeblich, um eine Versicherungsgesellschaft darin unterzubringen. Wir können das Haus räumen, ohne irgendwelche Spuren zurückzulassen.“
„Verdammt nochmal, das haben wir aber nicht nötig! Diese Schnüfflerin muss sterben! Das war Pauls Wille “
„Paul ist tot.“
„Die Interessen der Organisation haben sich nicht geändert“, erklärte der Boxer schwer atmend.
„Ich mache eine Menge mit“, meinte das Mädchen. „Mehr, als mir lieb ist. Ich tue es, weil ich weiß, dass Luxus, Komfort und Reichtum ihren Preis haben. Aber in diesem Spiel gibt es für mich Grenzen. Mord werde ich nicht zulassen. Ich habe keine Lust, im Knast zu enden.“
Der Boxer zögerte. „Du bildest dir ein, auf diese Weise eine Rückversicherung abzuschließen“, meinte er dann halblaut und grollend. „Du denkst, wenn sie dich eines Tages doch mal schnappen, wird sich Carrie Hill großmütig deines heutigen Verhaltens erinnern. Gib dich keinen Illusionen hin. Polypen sind alle gleich. Sie kennen keinen Dank und keine Gnade. Sie hassen uns und kennen nur ein Ziel: unsere Vernichtung! Es ist ein Kampf, in dem es kein Pardon gibt! Je früher du das begreifst, desto besser!“
„Bist du endlich fertig?“, fragte das Mädchen ungeduldig. Sie zuckte zusammen, weil sie bemerkt hatte, dass ich einen Schritt auf sie zugegangen war.
„Stopp!“, sagte sie blass und entschlossen. „Täuschen Sie sich nicht, Hill. Ich will kein Blutvergießen, aber wenn Sie aus meinen Worten den Schluss ziehen sollten, dass es kein Risiko bedeutet, mir die Pistole abzunehmen, werden Sie eine böse Überraschung erleben! Ich will Sie schonen, das haben Sie sicherlich gemerkt. Erschweren Sie mir diese Arbeit nicht durch irgendwelche Tricks! Zwingen Sie mich nicht, zur Mörderin zu werden!“
„Ich habe nicht vor, das Durcheinander zu vergrößern“, sagte ich.
„Sie müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass der Kampf weitergeht.“
„Das ist Ihre Sache und die von Pauls Männern“, meinte sie. „Ich bleibe jedenfalls meinem Grundsatz treu. Kein Mord mit meinem Wissen und in meiner Gegenwart!“
„Mir kommen gleich die Tränen!“, höhnte der Boxer.
„Du hast keinen Grund, dich aufzuspielen!“, sagte das Mädchen barsch. „Warte, wie die anderen reagieren werden, wenn sie hören wie Hill dich zusammengeschlagen hat!“
Der Ex-Meister sah auf einmal ziemlich kläglich aus. Er leckte sich die pralle, aufgeplatzte Unterlippe und meinte: „Willst du mich blamieren? Du weißt genau, dass in meinen Fäusten Dynamit steckt! Möglicherweise befinde ich mich in einem Formtief, das kommt selbst bei den tüchtigsten Leistungssportlern vor. Das nächste Mal verarbeite ich Hill zu Sägemehl!“
„Komm jetzt!“, sagte das Mädchen ungeduldig.
„Moment“, meinte der Boxer. „Erst muss ich den Telefonanschluss zerstören.“ Er ging ins Wohnzimmer. Ich hörte, wie er das Telefonkabel aus der Verankerung riss.
Dann kam er wieder. Das Jackett hatte er über die Schultern gehängt.
„Wo ist dein Handy?“, schnauzte er sie an. „Gib es mir“
Dona ging in den Flur und kramte in ihrer Handtasche. Sie überreichte ihm das Handy, was er sogleich in seine Jackentasche gleiten ließ.
„Alles, was hier geschieht, musst du verantworten!“, sagte er zu Dona.
„Sieh nach, ob der Schlüssel noch an der Wohnungstür steckt“, befahl sie.
„Er steckt.“
„Gut. Geh jetzt zum Lift. Stoße einen leisen Pfiff aus, wenn er da ist und du die Tür geöffnet hast.“
„Okay“, brummte er und marschierte zur Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen. Er wandte sich um und sagte drohend zu mir: „Wir sehen uns wieder!“
„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte ich.
Er grunzte etwas und verschwand. Im Haus war es sehr still, so dass man das Summen des Liftes deutlich hörte. Kurz darauf ertönte das abgesprochene Signal. Dona ging rückwärts zur Tür. Die Pistolenmündung zielte genau auf mein Herz.
„Treten Sie zurück“, sagte sie. „Bis ins Wohnzimmer ja, so ist es gut!“
Sie schloss blitzschnell die Wohnungstür. Fast gleichzeitig drehte sie den Schlüssel herum und zog ihn ab. Ich war eingeschlossen. Ich hörte, wie sich das helle Klicken ihrer hochhackigen Absätze rasch entfernte und trat im Wohnzimmer ans Telefon. Es kostete mich keine Mühe, das Telefonkabel zu reparieren, der Trottel von Mann hatte lediglich den Stecker aus der Wandbuchse gerissen.
Ich wählte Rayns Privatnummer. Er meldete sich nicht. Ich rief die Dienststelle an. Rayn war da.
„Hör mal“, sagte ich. „Willst du heute überhaupt nicht in die Klappe kriechen?“
„Mensch, Carrie!“, sagte er. Seiner Stimme war anzuhören, wie froh er war, dass ich endlich anrief. „Hast du überhaupt eine Ahnung, in welcher Sorge wir sind, seitdem diese undurchsichtige Geschichte in der Pilgrims Lane passierte? Ich bin hingefahren und habe dort den Dienstwagen entdeckt.“
„Alles halb so wild“, unterbrach ich, „zumindest soweit es mich betrifft. Für Ronny Wilson und Paul Dozer sehen die Dinge beträchtlich ernster aus. Beide sind tot.“
„Dozer?“, echote Rayn erstaunt. „Wie kommt der denn in die Geschichte rein?“
„Das erzähl ich dir später.“
„Wo bist du jetzt?“
„In der 66. Straße, in der Wohnung von Dona Mitchell. Ich bin von ihr eingeschlossen worden, werde aber keine Mühe haben, die Tür zu öffnen. Rufe Hoover an und stelle eine Verbindung mit der City Police her. Sorge vor allem dafür, dass schnellstens Haftbefehle für Johnny Tiggers und seine Nichte ausgefertigt werden.“
„Wie heißt das Mädchen?“
„Nancy Summer. Hast du den Namen?“
„Ja, ich schreibe mit. Wie motivierst du den Haftbefehl?“
„Beihilfe zum Mord“, sagte ich.
Rayn pfiff leise. Durch das Telefon klang es wie ein schriller Misston.
„Sonst noch etwas?“
Ich nannte ihm die Nummer des Grundstücks in der Westend Avenue und sagte: „Das Haus muss sofort umstellt werden. Vorsicht ist geboten! Bei den Bewohnern handelt es sich um Angehörige von Paul Dozers Gangsterorganisation. Ich wette, die Burschen werden von ihren Schusswaffen Gebrauch machen.“
„Das ist eine lange Auftragsliste“, sagte Rayn. „Fertig?“