»Und was heißt das jetzt alles?«, versuchte Benedict den Begriffsstutzigen zu spielen.
»Was heißt das! Was heißt das!«, ereiferte sich Kriminalrat Freudlos in seinem Sessel. »Das ist doch wohl sonnenklar! Die Sache fällt damit eindeutig in die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts in Karlsruhe! Terroristen!«
Die drei Engländer gaben dazu keinen Kommentar ab.
»Und die Frau? Was ist mit der Frau?« Benedict rannte sich in seinem sinnlosen Widerstand fest.
»Kollege Benedict! Die gleiche Tätergruppe, der gleiche Hintergrund. Geht alles nach Karlsruhe. Sie sind aus dem Schneider, freuen Sie sich!«
»That’s life«, meinte der Captain beim Abschied, und Benedict wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
»Noch fünf Minuten, und du kriegst ein Strafverfahren wegen Umweltverschmutzung an den Hals. Von mir höchstpersönlich! Willst du nicht endlich den verdammten Motor abstellen und mit raufkommen?« Die Stimme des Freundes dringt plötzlich wieder durch den Dunst der Erinnerungen. Sein erstaunt prüfender Blick. Die Hand, die Benedicts Ellenbogen schüttelt. Der Wagen steht vor dem mit Schwarzschiefer gedeckten Zweifamilienhaus an der Bockumer Straße. Verwirrt bewegt Benedict den Kopf und dreht den Zündschlüssel herum. Das ohnehin leise Motorgeräusch erstirbt.
»Benny, du gefällst mir nicht. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir!«
Die Stimme des Mannes hinter dem Steuer klingt brüchig, als er antwortet: »Da könntest du recht haben, Hannes. Da könntest du recht haben!«
*
Die Bewohner des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen sind größtenteils römisch-katholischen Glaubens. Sofern sie Glaubens sind. Zumindest statistisch gesehen. Somit sollte der Sonntag den Gläubigen zum Kirchgang und zur besinnenden Muße dienen.
Auf den triefnassen Äckern des deutsch-niederländischen Grenzgebietes in der Nähe der Gemeinde Twistedden verlegt ein Bauer Drainagerohre. Auch dieser Bauer gehört der statistischen Glaubensmehrheit des eben genannten Bundeslandes an. Trotzdem arbeitet er an einem Sonntagnachmittag. Was will man machen, wenn die Felder unter dem ständigen Niederrhein-Regen absaufen und die kaputten Drainagen ersetzt werden müssen. Der Glaube sorgt nicht für trockene Ackerkrume, und der Pfarrer drückt bei seinen landwirtschaftlichen Schäfchen beide Augen zu.
So tuckert die Zugmaschine mit dem schwer einsinkenden Hänger voller Rohre seit Mittag an den Rändern der Gemarkung entlang und passiert dabei mit arbeitsamer Gleichgültigkeit immer wieder jene Linie, die als Grenze zwischen dem Königreich der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland geschichtlich gewachsen ist.
Nein, hier gibt es keine Schlagbäume oder Grenzwachen. Hier ackert und pflügt man ohne große Rücksicht auf frühere Absichten. Es gibt hier auch niemanden, der beobachtet, wie aus einem niedrigen Gebüsch auf der niederländischen Seite drei schwer bepackte Gestalten zuerst ihre Taschen auf den Hänger werfen, dann flink selbst hinaufspringen und langgestreckt auf der schmutzigen Ladefläche liegen bleiben.
Als dieses geschieht, hüllen aufsteigende Herbstnebel und die sinkende Sonne die flache Landschaft in vorabendliches Zwielicht, und eine halbe Stunde später rattert das Arbeitsgespann mit seinen verborgenen Fahrgästen und eingeschalteten Scheinwerfern in Richtung Kevelaer davon.
*
Um zwei Uhr morgens wälzt sich Benedict immer noch unruhig in seinem Bett hin und her. Der Schlafanzug klebt an seinem Körper. Er ist äußerlich müde und zerschlagen, findet aber innerlich nicht die zum Einschlafen so wichtige Ruhe und Gelöstheit.
Auch das abendliche Gespräch mit seinem Freund konnte seine unruhige Spannung nicht besiegen. Schließlich gibt er seine nutzlosen Schäfchenzählereien auf und setzt sich im Wohnzimmer vor den Fernseher. Drückt den Sportkanal. Während auf dem Bildschirm bunte Rennwagen über den Kurs von Indianapolis rasen, sind seine Gedanken wieder bei diesem unruhigen Freitag. Nein, mit dem Gespräch bei den Tommies war die Sache noch nicht zu Ende. Als Freudlos und er wieder im Präsidium ankamen, überraschte ihn die Besatzung des 1. K mit einer Neuigkeit: Die Identität der toten Gefährtin des IntCorps-Sergeant war geklärt. Während ihrer Unterredung im Rhine Center hatte sich eine Frau auf die Zeitungsbilder hin gemeldet. Die Tote war von ihr als ihre Tochter identifiziert worden. Gabriele Bersch, 26 Jahre alt und Englischlehrerin an einem Düsseldorfer Gymnasium, befreundet mit vielen Engländern. So viel wusste die Mutter. Aber den Namen des Toten kannte sie nicht. Sie kannte auch den Toten nicht. Hatte aber, wie sie zugeben musste, im letzten halben Jahr nicht sehr viel Kontakt zu ihrer Tochter gehabt.
Eine Rückfrage im Sekretariat der Schule ergab, dass Gabriele Bersch eine Woche Sonderurlaub genommen hatte. Daher war ihr Verschwinden natürlich unbemerkt geblieben. Erst morgen hätte man sie vermisst gehabt.
Diese Konstellation ließ Raum für eine Reihe von Vermutungen.
Doemges, Leiden-Oster und er waren schnellstens zur Wohnung von Gabriele Bersch gefahren. Sie wohnte in der Mansardenwohnung eines modernen Neubaublocks. Als die Kriminalbeamten in die Wohnung eindrangen, stießen sie auf ein unbeschreibliches Durcheinander. Die beiden Räume waren total umgekrempelt worden. Alles, was sich irgendwie lösen oder lockern ließ, lag verstreut herum. Sessel, Polster und Bett waren aufgeschlitzt, das Geschirr war rücksichtslos herausgerissen und teilweise zertrümmert. Jemand war vor ihnen dagewesen und hatte etwas gesucht. Hatte er es auch gefunden?
Nach einer flüchtigen Bestandsaufnahme versiegelten sie die Wohnung von außen. Gerade als sie wieder in das unten wartende Fahrzeug steigen wollten, berührte jemand von hinten Benedicts Schulter. Ein blasser junger Mann mit leicht englischem Akzent in der Stimme hatte leise zu ihm gesagt: »Schönen Gruß von Captain Hart, aber die waren auch schon vor unseren Leuten da!«
4
Als Benedict am Montagmorgen mit hochgeschlagenem Mantelkragen die Diensträume des 1. K betritt, ist die Mannschaft bereits vollzählig versammelt. Aber die Arbeitsatmosphäre will sich erst langsam einstellen. Die Wahl vom Sonntag ist Hauptthema der hitzigen Debatten, deren Zeuge Benedict durch die nur angelehnte Tür zum Nebenraum seines Zimmers wird.
»Schon da, Chef.«
Doemges steht in der nun halboffenen Verbindungstür an den Rahmen gelehnt und lutscht sein übliches Pfefferminzbonbon. Er hält ein beschriebenes DIN-A4-Blatt in der Hand. Die in monotonem Tonfall gesprochenen Worte lassen nicht erkennen, ob das eben eine Frage gewesen ist. Doemges trägt einen seiner Naturwollpullover von undefinierbarer Farbe, dazu braune Cordhosen. Seine Füße mit dicken Wollsocken stecken in hellbraunen Lederklotschen.
Benedict hatte ihn im letzten Jahr mal auf dieses bei eventuell erforderlichen Verfolgungsjagden eher hinderliche Schuhwerk angesprochen. Da zog der schmale Kommissar lakonisch ein paar Adidas-Laufschuhe mit Klettverschluss aus den Taschen seines Parka und hielt sie ihm hin. Damit war das Thema erledigt.
»Was