»Da liegt noch ein Toter, Herr Hauptkommissar!«
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Die Mitglieder der SOKO sitzen im Besprechungsraum und starren auf das Flipchart. Doch auch die Auflistung der Taten bringt für Benedict keinen Sinn in diese Morde.
Brigitte Craatz: einzige bekannte, wenn auch stumme Größe. Zugeordnet, ins >Spritzer<-Schema passend, wenn auch brutaler Ausreißer in einer ansonsten stimmigen Reihe von achtzehn bekannten Fällen. Tod durch Verbluten. Messerstiche. Spermaflecken. Die bekannte Handschrift des Spritzers. Bis auf die Messerstiche. Die stimmen nicht.
Dann Leiche X 1: weiblich, zwischen zwanzig und dreißig Jahre, unbekleidet, keine besonderen Kennzeichen, Tod durch Genickschuss, Kaliberbestimmung liegt noch nicht vor.
Leiche X 2: männlich, um die Dreißig herum, ebenfalls unbekleidet, zwei Narben, Blinddarm und am Oberschenkel (Schussverletzung?), gefunden in knapp 60 Meter Entfernung von X 1, kniende Haltung, mit den Händen um einen Baumstamm gefesselt, Tod durch Genickschuss, Kaliber ebenfalls noch nicht bestimmt, aber vermutlich identisch mit Tatwaffe bei X 1.
Bis zu diesem späten Donnerstagnachmittag hat auch die Vermisstenstelle im Präsidium nichts über die Identität der beiden Toten ermitteln können. »Da verlangt ihr aber auch zu viel, Kollegen«, mault Hauptkommissar Ferber abschließend, »wenn das in der vergangenen Nacht erst passiert ist, nein, so schnell liegen nur in ganz seltenen Fälle Vermisstenmeldungen vor!«
»Sind die Fotos schon an die Presse gegangen?«, fragt der neben dem Flipchart stehende Benedict.
»Werden morgen veröffentlicht«, kommt es kurz von Kommissarin Leiden-Oster aus der ersten Stuhlreihe.
»Und die Sucherei mit den Hunden im Gelände? Hat das was gebracht?« Staatsanwalt Grüberle versucht sich in konstruktiver Fragetechnik. Trotz ernster Lage schmunzeln die Rheinländer über den ausgeprägten Badenser Dialekt des neu Zugereisten.
»Mm, mmm ...« Kriminalhauptmeister Henze steht halb von seinem Stuhl auf, setzt sich dann aber wieder hin. »Rehe aufgescheucht haben sie, sonst nichts!«
Ein Regenschauer pladdert gegen die beiden Fenster, und da niemand was zu sagen hat, sehen alle angelegentlich auf den grauen Stadthimmel da draußen. In die folgende Stille hinein hüstelt Doemges trocken, nimmt ein kleines Vivil aus der Packung und geht lutschend zum Flipchart. Kreist die tote Brigitte Craatz mit einem roten, die beiden X-Leichen aber mit einem schwarzen Filzstift ein. Von den gebannten Blicken der Zuschauer verfolgt, dreht er sich dann zu diesen herum und sagt, wieder trocken hüstelnd und auf seinem Pfefferminzdrops kauend: »Die beiden haben nichts mit der toten Craatz zu tun, behaupt' ich mal!« Und setzt sich wieder auf seinen Platz neben der Kommissarin.
Die ganze Runde ist verblüfft ob dieses ungewohnten Redeschwalls.
»Ist das nicht ein bisschen voreilig?« - »Na, na, na!« - »Sollten wir nicht erst die medizinischen Berichte abwarten?« - »Also, da kann ich nicht so unbedingt zustimmen!« - »Wie kommst du denn zu dieser These, Mann?« - »Kannst du das begründen, Doemges?«
Plötzlich haben sie alle was zu sagen.
Kommissarin Leiden-Oster, die neben einer Beamtin des 2. K. sitzt, sagt gar nichts und beißt sich auf die Lippen.
Nein. So bringt das heute nichts mehr.
»Machen wir Schluss! Morgen werden die Untersuchungsergebnisse vorliegen, und außerdem ... vielleicht kommt ja was wegen der Fotos. Wenn jemand die beiden Toten erkennt ... ja, machen wir Schluss!«
Die Leute sind unzufrieden. Hauptkommissar Benedict sieht es an ihren Bewegungen, als sie sich aus dem Besprechungsraum schieben, und an ihren mürrischen Gesichtern.
Doemges sucht noch mit fahrigen Fingern in dem Papierwust auf seinem Schreibtisch herum, nimmt sich dann aber resigniert ein neues Vivil aus der Packung und verabschiedet sich.
»Also dann!«
Ganz am Schluss gehen die beiden Frauen der SOKO.
»War ja zu erwarten«, hört Benedict die Kriminalobermeisterin zur Leiden-Oster sagen, »die Arbeitsrichter, alles Männer natürlich, haben dem Herrn Stadtdirektor zwar eine Rüge erteilt, aber die Frauenbeauftragte bleibt gefeuert!«
»Klar. Ist ja immer dasselbe mit ...«
Der Rest der Antwort von Kommissarin Leiden-Oster ist für Benedict nicht mehr zu verstehen. Die Tür ist zu.
Am Freitag liegen dann endlich die Untersuchungsergebnisse vor, und Doemges hüstelt ein kurzes »bueno« raus. Er bereitet sich schon auf seinen Weihnachtsurlaub in Spanien vor. Mit seiner These gestern lag er wohl richtig. Die unbekannten Toten im Aaper Wald scheinen nichts mit der erstochenen Brigitte Craatz zu tun zu haben. Nicht der geringste Anhaltspunkt für ein Sexualdelikt. Auch keine Spermaflecken. Der Tod durch die Schussverletzung trat nach Ansicht der medizinischen Sachverständigen in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag so zwischen 22 Uhr abends und 1 Uhr früh ein. Genauer konnten sie die Zeit nicht bestimmen. Das Kaliber der Munition - die Kugeln steckten zwischen den zersplitterten Schädelknochen - ist 9 mm. Dieses Kaliber kann aus einer ganzen Reihe von Waffen stammen, auch aus der Sig-Sauer, der bei der Polizei gebräuchlichen Dienstwaffe. Solange es nicht möglich ist, mit der benutzten Tatwaffe einen Vergleichsbeschuss durchzuführen, hilft diese Information also relativ wenig. Allerdings wartet man in dieser Sache noch auf eine Expertise des Landeskriminalamtes, die wahrscheinlich näheren Aufschluss geben würde.
»Und wat machen wa nu, Lotte?«, bemüht sich Kommissar Läppert um Auflockerung der reichlich verkrampft herumsitzenden Beamten.
»Wir teilen uns auf«, antwortet Hauptkommissar Benedict ohne einen Anflug von Humor. »Doemges und Sie«, er nickt kurz zu Leiden-Oster hin, »ihr beide nehmt euch noch vier Leute und verfolgt die Sache Craatz weiter. Natürlich sind bei euch auch die zwei Kollegen von der Sitte dabei. Und Sie, Läppert, Sie, Neumann«, der Leiter des 1. K zeigt noch auf vier weitere Beamte, »Sie machen sich mit mir zusammen über die neue Sache her, okay?«
»Wie ist das mit der Raumaufteilung, und wer ist verantwortlich in der Craatz-Ermittlung?«, fragt die Kommissarin und sieht ihn sehr direkt an. Benedict unterdrückt ein offenes Stöhnen.
»Sie können diesen Raum hier nehmen, und wir«, er greift schon nach der Türklinke, »wir gehen in mein Zimmer.«
»Und wer hat die Leitung?«, insistiert die Kommissarin weiter.
»Der Doemges!«, muffelt Benedict und verlässt endlich aufatmend den Besprechungsraum.
»Also, Kommissar Läppert, Sie, Dunklenbroich, und ich, wir sehen uns noch mal die Gegend an. Vielleicht hat da ja jemand was in der fraglichen Nacht gehört. Kommissar Neumann macht die Koordination im Innendienst. Gehen Sie dann auch noch mal in den Computer rein. Stichwort Genickschuss!«
In dem Zivil-Golf ist es eng, und Benedict denkt auf dem schmalen Beifahrersitz voll Sehnsucht an seinen Jaguar, dieses nutzlos schöne Hochzeitsgeschenk von Kitty. Mit beschlagenen Innenscheiben schlängelt sich das unauffällige Fahrzeug durch den Mittagsverkehr der Innenstadt in Richtung Brehmstraße. Als sie an der Ampel am Eisstadion halten