Das Wort >Aap< hat nichts mit hier frei lebenden Affen zu tun, sondern ist keltischen Ursprungs und bedeutet > wasser- und quellreich<. Die Düsselstädter, die an Wochenenden in ihre Waldgebiete einfallen, sind aber weniger an Wasserquellen als vielmehr an den zahlreichen Restaurationsbetrieben interessiert. Von dem ganz besonderen Verhältnis der Städter zur Natur kann auch der zuständige Förster ein Lied singen, beginnt er doch seinen täglichen Inspektionsgang von seinem Dienstsitz im Betriebsbezirk 4 an der Reichswaldallee jedes Mal mit gemischten Gefühlen: Wie viele Bäume wurden diesmal wieder mutwillig beschädigt, wie viel Müll wurde wieder in den zugänglichen Schneisen abgekippt, und wie viele Jungpflanzen wurden von Spaziergängern und wilder Kavallerie niedergetrampelt? Eine etwa 100 Jahre alte Buche mit einem Kronendurchmesser von ungefähr 15 Metern und mit einer Standfläche von 160 Quadratmetern deckt den täglichen Sauerstoffbedarf von 64 Menschen.
Die junge Frau, deren nackten Fuß der Forstinspektor an diesem nassen Donnerstagmorgen auf seinem Rundgang aus dichtem Buschwerk herausragen sieht, benötigt keinen Baum mehr. Ihr Bedarf an Sauerstoff ist gleich null. Als der Mann in der grünen Berufskleidung ernst in das Funkgerät seines Dienstwagens spricht, ist die Frau schon einige Stunden tot.
Die große Mittwochsrunde findet in dieser Woche mit einem Tag Verspätung statt. Das >Karo< höchstpersönlich leitet heute die wöchentliche Frühbesprechung aller Kommissariate in der Aula. Der nach dem großen Umbau neu renovierte Saal unter dem Dach des Präsidiums platzt fast aus den Nähten.
Hauptkommissar Benedict gähnt hinter der vorgehaltenen Hand, sieht aber ringsum fast ausnahmslos frisch gewaschene Morgenlächler auf den Stühlen.
Morgenstund' ist aller Laster Anfang, denkt der eingefleischte Morgenmuffel resigniert. Der Polizeipräsident, erst kürzlich von einem Besuch bei seiner nach Kanada ausgewanderten Schwester zurückgekehrt, spielt selbstvergessen am Knopf seines in Vancouver erstandenen Sakkos. Benedict kneift die Augen zu, reißt sie dann ruckartig wieder auf. Aber das Bild des grobschlächtigen Mannes mit dem lichten Haarkranz auf dem massigen Schädel und dieser unsäglichen grün-rot-karierten Jacke will nicht verschwinden. Der Präsident macht seinem Spitznamen alle Ehre.
Nachdem die anstehenden Fälle der Kripo besprochen sind und alle auf das Signal zum Aufbruch warten, erhebt sich der Koloss schwerfällig von seinem Stuhl. Mit einer kurzen Handbewegung gebietet er wieder Ruhe. »Auch im Namen des Innenministers möchte ich Ihnen für die gestern geleistete Arbeit danken. Ich weiß, dass Sie alle ganz schön ausgelastet waren. Trotzdem wird von uns erwartet, dass wir auch die anstehenden polizeilichen Aufgaben unserem Auftrag entsprechend mit der gewohnten und gebotenen Sorgfalt lösen! Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass für einige von Ihnen wieder ein Einsatz bevorsteht, der erhebliche Anforderungen an Sie stellen wird. Das Innenministerium hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass zwischen dem 2. und 7. November der englische Thronfolger Prinz Charles mit seiner Gattin Lady Diana zu einem offiziellen Staatsbesuch in die Bundesrepublik kommen wird. Am 4. November werden die beiden Staatsgäste zu einem Empfang auf Schloss Benrath hier in Düsseldorf erwartet. Für diesen Besuch gilt die höchste Sicherheitsstufe. Es liegen Erkenntnisse über einen möglichen terroristischen Anschlag vor. Eine erste Lagebesprechung findet in der nächsten Woche statt. Die involvierten Dienststellen werden von mir rechtzeitig in Kenntnis gesetzt!«
Der Polizeipräsident reibt sich die Hände, als wäre ihm kalt, und blickt sorgenvoll auf die versammelte Beamtenschaft hinunter. Mit seinem obligatorischen »Glück auf« beschließt er die Frühbesprechung. Der Saal leert sich schnell. Alles drängt zum zweiten Frühstück. Die Kantine im Erdgeschoss hat nicht viel Platz.
Doemges, Läppert und Bernwart Neumann sprinten die Treppen runter. Die Kommissarin Leiden-Oster unterhält sich mit dem Leitenden Kriminaldirektor am Ende des fast leeren Saales. Hauptkommissar Benedict trottet langsam hinter dem sich verlaufenden Pulk hinterher.
Kurz vor seinem Dienstzimmer im zweiten Stock wischt ihm wieder der Gedanke an die von Dr. Lenzfried angesprochene Frauen-Miliz durch den Kopf. Vielleicht sollte er mal mit den Leuten vom 14. K. sprechen und ... als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnen will, stürzt ihm Kommissar Doemges an der Spitze einer aufgeregten Dreiergruppe entgegen.
Dann steht er zum zweiten Mal innerhalb einer Woche im nassen Grün vor einer Leiche.
Tropfen von den Ästen rinnen unter seinen Hemdkragen, und ihn fröstelt leicht. Er versucht, mit einer Hand den Mantelkragen fester um den Hals zu schließen, dabei läuft ihm der Regen von oben unter die Hemdmanschetten. Er gibt auf. Ein dicker Tropfen platzt auf seiner Nase und versprüht Regenfontänen vor seiner Brille. Kann man vergessen. Schließlich geht es den zwischen den Bäumen rumsuchenden Beamten des 1. K auch nicht anders.
Während Doemges, Läppert und ein Neumann durch das herbstnasse Laub kriechen, steht Hauptkommissar Benedict mit Forstinspektor Sieckmann am Rande des Weges und hört sich dessen knappen Bericht noch mal an. Das ist völlig überflüssig, denn er hatte schon vor zwanzig Minuten alles Wesentliche mitbekommen. Benedicts Interesse gilt daher auch nur sehr oberflächlich den dürren Worten und Gesten des Forstbeamten. Seine zusammengekniffenen Augen hinter den regennassen Brillengläsern sind konzentriert auf das Gesicht von Kommissarin Maria Leiden-Oster gerichtet, die seit knapp fünf Minuten unbeweglich neben der Frauenleiche steht. Während dieser fünf Minuten hat sie ihren starren Körper kaum gerührt, und würden sich nicht ihre Augenlider ab und zu bewegen, könnte man sie fast selbst für eine Tote halten.
Unter der dicken Hornbrille der Kommissarin fließen Tränen über die verkrampften Wangen. Als Benedict sie später beiläufig darauf anspricht, verweist sie in ihrem kühlen, sachlichen Ton auf die regnerischen Wetterbedingungen an diesem Tag.
Die Frau liegt auf dem Rücken. Die Beine leicht gespreizt. Ein weiß-grauer Mädchenkörper inmitten nass-braunen Herbstlaubs. Wie auf einem Opferstein, muss Benedict denken. »Kann man das Mädchen mal zudecken?«, fragt er dann laut zu dem Polizeiarzt hin, der in seinem Wagen Notizen macht. Die Kommissarin verliert jetzt ihre Starrheit und wendet ihm den Kopf zu. In den traurigen Augen unter dem Rand ihres Kopftuches schimmert ein Schein von Dankbarkeit auf.
»Natürlich!«, ruft der Arzt aus dem Wagen heraus. »Ich bin ja jetzt auch so weit!« Er kommt mit seinen Notizen zu Benedict in den Regen hinaus, denn der macht nicht die geringsten Anstalten, sich zu ihm zu begeben. Zwei uniformierte Polizisten werfen eine Art von Pferdedecke über den nassen Leichnam. Die Kommissarin scheint etwas zu den beiden Rohlingen sagen zu wollen, verzieht dann aber nur das Gesicht und schließt sich den anderen Leuten des 1. K bei deren Suche an.
»Na, was haben Sie?«, wendet sich der Hauptkommissar voller Aufmerksamkeit dem Arzt zu.
Der Gesichtsausdruck des Mediziners, halb boshaft und halb pfiffig, warnt den Hauptkommissar vor seinen eigenen Erwartungen. Eine nackte Frauenleiche? In dieser Haltung? Die zweite innerhalb von einer Woche? Da würde die spätere Untersuchung doch nur bestätigen, was eh schon klar war: Vergewaltigung oder abartige Handlungen mit Todesfolge oder so was in dieser Art ...
»Genickschuss!«
Das Wort aus dem Mund des Arztes knallt in Benedicts vorsichtige Gedanken hinein wie ein abgebrochener Ast an einem zu trockenen Baum.
»Wahrscheinlich aus kürzester Entfernung. Pulverspuren neben der Einschussstelle, Schmutz- und Schürfwunden an beiden Knien, könnte in kniender Haltung erschossen und erst anschließend in die jetzige Position gebracht worden sein. Also, ich weiß, es klingt verrückt, aber die Frau scheint«, er zögert vor dem nächsten Wort, »hingerichtet worden zu sein. Exekutiert! Unglaublich!«
Der Arzt schaut ihn fast flehend an. Als erwartete er den Beweis des Gegenteils von dem Kripomann. Aber der Hauptkommissar ist in Gedanken immer noch bei der jungen Frau, die am Sonntag früh in den Rheinwiesen gelegen hatte. Ja, die hatte einen ganz anderen Eindruck gemacht.
»Genickschuss?«, fragte er dann mit einer sehr flachen Stimme. Bloß keine Bedeutung in die Frage legen. Nichts anmerken lassen. Von der aufkeimenden Angst. Von diesem schmutzigen Eisklumpen tief im Rücken.
Bevor der Mann mit dem