Ich erlebe Eltern immer wieder als sehr offen für Neues und glaube mit ihnen an die Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung. Allerdings gibt es wenig, an dem wir uns orientieren können. Nur in einem scheinen wir uns sicher: Das Autoritäre, das uns geprägt hat, haben wir überwunden. Ob das tatsächlich so ist? Ich bin mir da nicht so sicher.
In meiner Arbeit mit Familien begegnen mir viele verschiedene Einstellungen und Erziehungsansätze – zwei unterschiedliche möchte ich näher beschreiben.
Zwei »beliebte« Irrtümer – Schmerz- und Konfliktvermeidung
Es gibt zum einen die Eltern, die ihren Kindern (scheinbar) negative Erfahrungen ersparen wollen und sie von jeglichem Schmerz fernzuhalten trachten.
Auf dem Spielplatz ruft die Mutter sorgenvoll der zweijährigen Charlotte nach, sie solle langsam laufen, sonst falle sie noch hin. Sie folgt ihr aus Angst, sie könne abrutschen, hinunterfallen und sich wehtun, schnell zum Klettergerüst, um zu verhindern, dass sie selbstständig hinaufklettert. Charlotte macht den ersten Schritt auf die Stufe. Die eine Hand der Mutter am Bein, die andere am Rücken. Die Mutter lässt Charlotte nicht aus den Augen und aus den Händen, begleitet sie auf Schritt und Tritt.
Eltern wie die Mutter von Charlotte haben die Vorstellung, dass Kinder keine »Fehltritte« machen, dass sie immer »glücklich« sein sollen. Sie sollen keinen Schmerz empfinden, keine Tränen weinen, sie sollen nicht unglücklich sein. So verhindern sie (in gutem Glauben) jedoch wichtige Entwicklungen bei ihren Kindern. Eltern, die sich so verhalten, nehmen den Kindern die Möglichkeit, EIGENE ERFAHRUNGEN mit sich selbst und der Umwelt zu machen: zu erfahren, wie man Gleichgewicht hält, wie viel Kraft es kostet, sich hochzuziehen, und auch zu erfahren, wie sich eine Beule oder ein blauer Fleck anfühlt. Dies alles sind grundlegende Erfahrungen im Leben.
Kinder begreifen ihre Umwelt, und es ist wichtig, dass sie forschen, ausprobieren, autonom werden und ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen. Dabei geht es nicht darum, Kinder ernsthaften Gefahren auszusetzen oder sie sich selbst zu überlassen. Das wäre grob fahrlässig und natürlich nicht im Sinne des Kindes. Eine »Überbehütung« – ihnen gar keinen Raum zu geben, sie aus Furcht vor Schmerz oder Verletzung vor allem »Unglück« bewahren und ihnen jede Hürde aus dem Weg räumen zu wollen – ist aber genauso problematisch und hemmt die Entwicklung von Kindern.
Alle Gefühle sind wichtig: Ohne Schmerz keine Freude
Schmerz, Verletzung, ÄRGER UND KRISEN, das alles ist negativ belegt, es gehört jedoch genauso zum Leben wie GLÜCK UND FREUDE. Das eine kann man nur wahrnehmen, wenn das andere auch vorhanden ist. Kinder kommen mit vielen Potenzialen und Kompetenzen, talentiert, offen und klug auf die Welt – ihnen fehlt es lediglich an Erfahrungen. Diese Erfahrungen müssen sie selbst machen dürfen. Eltern, die ihren Kindern jeden Wunsch von den Augen ablesen, die ihnen alles kaufen, alle Wünsche erfüllen, rauben ihnen wesentliche positive emotionale Erfahrungen, nämlich die, sich nach etwas zu sehnen oder sich auf etwas zu freuen.
Mit Kindern im Dialog
Natürlich gibt es auch Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben und die wir unseren Kindern ersparen wollen. Das geschieht in der vermeintlich guten elterlichen Absicht, die eigenen Kinder vor scheinbar »schlechten Erfahrungen« beschützen zu wollen, und ich kann den Wunsch auch verstehen. Trotz allem ist ein solcher Umgang nicht hilfreich und entwicklungsfördernd. Die Mär vom »immerzu glücklichen Kind« ist ein Auswuchs einer als modern empfundenen Erziehung. Dem Kind wird so nämlich suggeriert: »Du bist nicht o. k., so wie du bist – mit deinem ENTDECKERTRIEB. Ich muss auf dich aufpassen, meine elterliche Fürsorgepflicht ist es, dir alle Wege zu ebnen.« Nach meiner Erfahrung beschneidet eine solche Haltung das Kind in seiner Entwicklung und beraubt es grundsätzlich der Möglichkeit, die Welt selbstständig zu erkunden.
Kinder brauchen eigene gelebte Erfahrungen und keine von uns gewonnenen und weitergegebenen Weisheiten. Strategien im Umgang mit körperlichem Schmerz – etwa das Hinfallen auf dem Spielplatz – und seelischem Schmerz – zum Beispiel auch der Tod einer nahen Person oder die Erfahrung, dass sich ein dringender Wunsch nicht erfüllen wird – lassen sich nur durch EIGENES ERLEBEN erfahren, nicht vermitteln. Aus Sicht der Hirnforschung würde man sagen: Nur das selbst Erfahrene führt zu einer entsprechenden Vernetzung im Gehirn und lässt physiologische Bedingungen als Antwort auf unsere Erfahrungen entstehen.
Was wir allerdings tun können, ist, von unseren eigenen Erfahrungen zu berichten, in einen ernsthaften und konstruktiven DIALOG mit Kindern zu gehen und ihnen zu erzählen, wie es bei uns war. Auch können wir Stellung beziehen: »Ich finde das gut« oder »Das habe ich anders gemacht«. Wir sollten jedoch nicht die Erwartung haben, dass das Kind dann den Drang, die Erfahrung selbst machen zu wollen, nicht mehr verspürt. Wichtig ist, dass Kinder (auch mit schwierigen Erfahrungen) nicht allein sind, dass sie Eltern haben, die sie in allen diesen Situationen begleiten und die als authentische Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
Unechte Harmonie schadet
Ein anderer Erziehungsansatz – als der von Überbehütung und Schmerzvermeidung – beruht darauf, dass Eltern gleichbleibend »nett« agieren, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dabei erleben Kinder ihre Eltern in ihrem Verhalten jedoch als unklar; sie können sie außerdem mit ihren Gedanken und Gefühlen und somit als echte Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen nicht richtig wahrnehmen.
Der fünfjährige Max ist mit seinen Eltern in einem Café. Max springt auf, nachdem er gut eine halbe Stunde ruhig am Tisch gesessen hat. Er rennt durch das Café und spielt Flugzeug, die Arme weit zur Seite ausgebreitet. Seine Eltern beobachten ihn. Sein Vater runzelt leicht die Stirn und überlegt, ob er etwas sagen soll. Im Vorbeirasen stößt Max nun an einen Stuhl. Es poltert, der Stuhl fällt um. Leise seufzend stellt der Vater den Stuhl wieder hin. Er sieht sich zu anderen Gästen um, die unruhig werden. »Max, hör bitte auf«, sagt er sanft lächelnd, seine Stimme ist jedoch gepresst und verrät seine Ungeduld. Max spielt weiter und scheint seinen Vater gar nicht gehört zu haben. Seine Mutter reagiert nun auch, sie wirkt angespannt, bittet Max jedoch ebenfalls lächelnd: »Max, spiel doch nicht so laut. Schau doch mal, ob du vielleicht draußen spielen kannst.«
Zunächst: Max verhält sich völlig altersgerecht. Nach einer gewissen Zeit im Café mit seinen Eltern muss er sich bewegen und hat das Bedürfnis zu spielen. Max’ Eltern spüren, dass ihr Sohn die anderen Gäste stört, sie haben aber die Vorstellung, dass Eltern in ihrer Rolle vor allem »freundlich« sein sollen, und reagieren deshalb in der beschriebenen Form. Hierdurch allerdings entziehen sie sich gleichzeitig einem eventuell drohenden Konflikt mit ihrem Sohn, und Max verliert durch die »aufgesetzte Nettigkeit« AUTHENTISCHE Ansprechpartner. Er wird so einer grundlegenden Beziehungserfahrung beraubt.
Klare Positionen beziehen
Eltern wollen heute oft harmonische Übereinstimmung, erwarten Verständnis und meiden (vielleicht nur scheinbare) Konflikte mit ihren Kindern. Was würde passieren, wenn die Eltern Max das Spielen im Café untersagen und ihn bitten würden, nach draußen zu gehen? Entweder geht Max nach draußen und spielt dort weiter. Oder er wird ärgerlich und kommt der Aufforderung der Eltern nicht nach. Dann wäre ein Konflikt zu lösen. Eines wird jedenfalls nicht passieren, nämlich dass Max sich an seine Eltern wendet und sagt: »Ja, liebe Eltern. Ihr habt ja völlig recht, ich bin viel zu laut hier und sollte lieber draußen weiterspielen. Wie gut, dass ihr da seid und mich darauf hingewiesen habt. Und außerdem: Hier im Café ist es auch viel zu langweilig.«
Diese Vorstellung mag zum Schmunzeln anregen. Meine Erfahrung ist, dass Eltern nicht selten (unbewusst) jedoch genau diese Erwartung haben. Letztendlich soll das Kind Verständnis für die Position der Erwachsenen haben. Das ist zu viel verlangt. Selbst wenn Max wütend werden