Raus aus den eigenen erlernten Emotions- und Handlungsmustern
In beiden Situationen – in der Spielplatzszene mit Charlotte und in der Szene im Café mit Max – wird die Unsicherheit von Eltern offenkundig und ihr Bemühen, sich autoritärer Erziehungskonzepte zu enthalten. Die Eltern versuchen es in beiden Fällen anders. Dennoch: Zunächst einmal gibt es ja gar keinen Konflikt zwischen Erwachsenen und Kindern. Was aber, wenn Charlotte irgendwann allein das Klettergerüst erkunden will, die Hilfe der Mutter ablehnt und sich so ihre Autonomie erkämpft? Und was, wenn Max auf die immer gleichbleibend freundliche Ansprache seiner Eltern hin einmal nicht »funktioniert« und ebenfalls autonom entscheidet, weiter im Café zu spielen?
Sobald Kinder sich in diesen und ähnlichen Situationen nicht der meist unausgesprochenen Erwartungshaltung der Eltern unterordnen und mehr AUTONOMIE fordern, kommt es zu Konflikten. Die Eltern müssen sich positionieren, kommen jedoch mit ihren (neuen) erzieherischen Ansätzen nicht weiter.
»Bei Konflikten fallen Eltern häufig automatisch in etwas lange zuvor Gelerntes zurück, nämlich in (selbst erlebte) autoritäre Erziehungsmuster.«
Lernen mit Gefühl
All unser Handeln ist an Gefühle gekoppelt. Jede Erfahrung ist im Gehirn mit einer bestimmten Emotion verbunden. Diese Emotion wird gespeichert und mit entsprechenden Handlungsmustern verknüpft. Sobald Menschen in eine Situation geraten, die dieser Erfahrung entspricht oder nahekommt, wird auch die mit ihr verbundene Emotion wieder abgerufen, und die mit ihr verknüpften Reaktions- und Handlungsmuster können wieder in Kraft treten.
Man kann oft beobachten, dass gerade Menschen, die im öffentlichen Leben souverän und bedacht auftreten, in Situationen, die besonders emotional sind und »unter die Haut« gehen – also gerade im familiären Bereich, wo eine intensive Beziehungsarbeit notwendig ist –, durch diese emotionalen Kopplungen unbewusst in alte Muster zurückfallen.
Sie greifen dann zum Beispiel auf Strafen, und seien es auch nur kleine, auf Druck oder auch gewaltsame Durchsetzungsmittel zurück. Ausgerechnet diese rücksichtslosen und oft selbst als machtvoll und gewaltsam erlebten Erziehungsmethoden sind es, die sie dann anwenden – obwohl sie geglaubt hatten, diese längst überwunden zu haben.
Ohne einen entsprechenden EIGENEN ERKENNTNISPROZESS ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass zum Beispiel eine Mutter, die selbst noch streng und autoritär erzogen wurde, in einer emotionalen Konfliktsituation ihrem Kind gegenüber unbewusst auch erst mal in ein autoritäres Handlungsmuster verfällt. Nicht etwa, weil sie sich bewusst dafür entscheidet, sondern weil durch die starke Emotion, die mit der aktuellen Konfliktsituation verbunden ist, eine Brücke zu einer entsprechenden, früher selbst erfahrenen Reaktion geschlagen wird. Und so geschieht es, dass eine Mutter oder ein Vater dann sagen: »Ich wollte gar nicht schlagen – es ist einfach passiert!« In der Regel sind Eltern darüber nicht glücklich, und es tut ihnen leid. Manchmal drückt sich ihr schlechtes Gewissen dadurch aus, dass sie ihr Handeln zu rechtfertigen suchen (»Du hast es aber auch übertrieben!«).
Manche Eltern wollen jedoch ganz bewusst aus diesem Muster »aussteigen«. Dies kann nur durch einen inneren Prozess gelingen. Wenn Eltern es schaffen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und nicht dem Kind die Schuld zu geben (»Du hast dich nicht gut verhalten, ich konnte deshalb nicht anders«), kann ein solcher Prozess in Gang kommen, und über SELBSTREFLEXION können neue Handlungsmuster und Haltungen entstehen, die an ein anderes Gefühl gekoppelt werden.
Gerade weil die Unsicherheit darüber groß ist, wie wir »richtig« reagieren, machen wir reflexartig einen Schritt zurück auf emotional (vermeintlich) sicheres, weil vertrautes Terrain, nämlich in das autoritär geprägte Erziehungsmuster. Für Kinder hat das unmittelbare Auswirkungen auf der Beziehungsebene: Sie erleben, wie ihre Eltern ständig ihre Stimmungen und Haltungen wechseln. Von freundlich und scheinbar gut gelaunt kippt die Situation für Kinder nicht nachvollziehbar ins Gegenteil, in autoritäre, strenge Reaktionen. Die Kinder sind verwirrt. Sie erhalten keine klare, authentische Antwort auf der Beziehungsebene und erleben permanent unklare und unsichere Erwachsene, die anscheinend selbst nicht wissen, was sie wollen. Und so bleibt den Kindern nur das Entwickeln ihrer eigenen Strategie, mit der Unklarheit ihres erwachsenen Gegenübers umzugehen.
GEWALT IN FAMILIEN
Gewalt ist Gewalt. Und so möchte ich an dieser Stelle auf alle ihre Formen schauen, auch auf extreme, über die wir alle erschrecken. Ich möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Kinder auch heute noch in ihren Familien körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Auch wenn es hinter geschlossenen Türen geschieht, passiert es doch INMITTEN UNSERER GESELLSCHAFT, oft auch vor unseren Augen – wir müssen nur hinsehen. Die Fakten und Zahlen sprechen für sich. Laut einer Pressemitteilung der Deutschen Kinderhilfe sind im Jahr 2018 136 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen, in 98 Fällen liegt ein Tötungsversuch vor. Die Zahl der Misshandlungen lag bei 4180. Die meisten Delikte werden innerhalb der Familie verübt; es geht also nicht um Kinder, die in die Hände von fremden Gewalttätern gefallen sind.
Die Deutsche Kinderhilfe fordert angesichts dieser Zahlen seit Langem strukturelle Reformen des Kinder- und Jugendschutzes in Deutschland. Der Vorstandsvorsitzende der ständigen Kindervertretung, Rainer Becker, fordert jeden Einzelnen, jede Einzelne auf, nicht die Augen davor zu verschließen, dass Gewalt gegen Kinder jeden Tag mehrfach ausgeübt wird. Es gilt, dieser Gewalt entgegenzutreten, mit Kindern einen altersgerechten Umgang zu pflegen und ihre Rechte zu wahren.
Wie sieht es aus mit den Rechten von Kindern?
Nicht jedes Kind, das Gewalt erfährt, wird sichtbar verletzt oder kommt gleich ums Leben. Und vor allem: Nicht jede Gewalttat gegen Kinder wird angezeigt. Laut Polizei ist hier von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen. Und nicht nur Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten sind gefährdet, Opfer von Misshandlungen durch Erziehungsberechtigte zu werden. Auslöser für Gewalt gegen Kinder sind meist Stress und Überforderung, und so existiert Gewalt in allen Formen als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Eine im Jahr 2012 vom Forsa-Institut im Auftrag der Zeitschrift Eltern erstellte Studie offenbarte dramatische Zahlen. 40 Prozent der Eltern gaben an, ihre Kinder zu verprügeln (»Hintern versohlen«), weitere 10 Prozent schlagen ihre Kinder auch ins Gesicht (»Ohrfeige«). Laut einer neueren Forsa-Umfrage von 2017 finden 25 Prozent eine Ohrfeige in Ordnung. Zu berücksichtigen ist hier, dass Gewalt ein schambesetztes TABUTHEMA ist. So wird bei der Datenerhebung nur berücksichtigt, wer auch bereit ist, Auskunft zu erteilen. Es ist deshalb auch hier von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
»Anscheinend wissen wir, dass es ›nicht gut‹ ist, Kinder zu schlagen, aber in den Köpfen der Menschen hat sich der Wandel hin zu einer gewaltfreien Erziehung noch nicht vollzogen.«
Besonders erschütternd ist es aus meiner Sicht, dass wir uns offensichtlich eingestehen müssen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir für Kinder zwar ein gesetzliches Recht auf eine gewaltfreie Erziehung verabschiedet haben, nach wie vor jedoch die Anwendung von körperlicher Gewalt als Maßnahme zu den allgemein akzeptierten Erziehungsmitteln gehört. Das hat auch damit zu tun, dass hier zwei Rechtsprinzipien kollidieren. Zwar verbietet das Bürgerliche Gesetzbuch körperliche Gewalt gegen Kinder. Zugleich jedoch erklärt das Grundgesetz die Erziehung zur obersten Obliegenheit der Eltern, die Kinder also gleichsam zur »Privatsache« der Familie (Artikel 6 GG):
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
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