Verunsicherung durch Angst
Eltern wollen alles gut, alles richtig machen. Die Anforderungen, allem gerecht zu werden, steigen, und durch äußere oder auch eigene Ansprüche geraten Eltern schnell unter Druck, was zu Verunsicherung führt. Und Eltern sind leicht zu verunsichern. Das wird immer wieder in Familienberatungen deutlich. Eltern sind angreifbar und verletzlich in ihrer emotionalen Rolle als Mutter oder Vater, und sie fühlen sich sofort schuldig, wenn etwas (vermeintlich) nicht gelingt. Eltern erleben den Widerspruch zwischen dem Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu ermöglichen und so deren gesellschaftliche Chancen zu steigern, und dem Bedürfnis nach familiärer Geborgenheit. Deshalb stellt sich ihnen die Frage, wie sie ihr Kind besser verstehen und gut mit ihm umgehen können, heute dringlicher denn je.
Das Märchen von »Monstern« und »Tyrannen«
Wir sind auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, miteinander zu leben. Wir sind in einer Phase der Ungewissheit und des Umbruchs. Dieser Zustand erklärt, warum so viele Debatten geführt werden über die angebliche »Disziplinlosigkeit« der Kinder und Jugendlichen von heute. Auch ist es in solch einer gesellschaftlichen Stimmung nur nachvollziehbar, dass Bücher, die aus medizinisch-psychiatrischer Sicht einen angeblichen »Erziehungsnotstand« ausrufen und Kindern neben der inflationären Diagnose ADHS zugleich noch eine psychische Reifeverzögerung attestieren, auf breites Interesse stoßen. Und nachvollziehbar ist ebenfalls, dass die autoritären Traktate, in denen von »kleinen Monstern« die Rede ist, die uns den »letzten Nerv rauben«, die uns »auf der Nase herumtanzen«, die »irrsinnig anstrengend« sind, offene Ohren finden. Diese Diskussionen über Kinder, die nicht »erzogen« sind, und über Eltern, deren Erziehung »aus dem Ruder gelaufen« ist und die sich »kleine Tyrannen herangezüchtet« haben, tragen ihren Teil dazu bei, dass bei vielen Eltern die Unsicherheit verstärkt wird. Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung durch Schriften, die ein Loblied auf die »Disziplin« singen und in denen gefordert wird, dass Eltern mehr »durchgreifen« sollten. Wie viel zusätzliche Verantwortung lastet da auf den Schultern der Eltern!
Auffällig – und ALARMIEREND – ist, dass gerade in derartigen Büchern kindliches Verhalten als »normal« oder »anormal« eingeordnet und gewertet wird, ohne dass die Verfasser sich mit der jeweiligen Situation, in der ein Kind agiert, oder mit den Gründen für ein bestimmtes Verhalten auseinandersetzen. Heute scheinen Kinder sofort mit Diagnosen belegt und bei jeder kleinsten Abweichung als »verhaltensauffällig« eingestuft zu werden. Ganz so, als ob keinerlei Zweifel daran bestünden, was als »normal«, »nicht normal«, als abweichendes Verhalten oder gar als krankhaft zu gelten habe. PAUSCHALIERUNGEN und VEREINFACHUNGEN von komplexen Fragen sind jedoch weder für Kinder noch für Eltern hilfreich und werden der diffizilen Materie nicht gerecht. Sie tragen vielmehr zur Unsicherheit von Eltern bei und lösen Angst und Sorge auf ihrer Seite aus.
Vieles ist normal!
»Normales«, also typisches Verhalten von Kindern ist erst mal ein rein statistischer Wert, und es bedarf einer differenzierten, umfassenden Beobachtung des Kindes unter Einbeziehung seiner Lebensumwelt, um fachlich einordnen zu können, ob es sich im konkreten Fall um ein Normverhalten handelt oder ob eine Abweichung vorliegt. Denn die Vielfalt dessen, was innerhalb einer gesunden kindgerechten Entwicklung geschehen kann, ist ungemein groß – und lässt viel Platz für Interpretation.
Stigmatisierung der Kinder, Schuldgefühle der Eltern
Eltern werden heute beständig mit Untergangsszenarien konfrontiert, die durch vermeintlich logische, tatsächlich aber haarsträubende Kausalketten hergeleitet werden. Von einem Kind, das sich protestierend auf den Boden wirft, weil es nicht einsehen will, dass seine Mutter ihm den Mund abwischt, ist es – glaubt man diesen Experten – nicht weit bis zu einem jugendlichen Arbeitslosen, der nicht fähig ist, eine Ausbildung anzufangen und zu beenden.
Nicht selten landen dann verunsicherte Eltern bei Kinderärzten, Psychiatern und Psychologen; die Kinder müssen sich Tests unterziehen, man stellt ihnen Diagnosen, sie werden therapiert und häufig medikamentiert. Ihre »Symptome« werden behandelt. Sie werden als auffällige, schwierige Kinder eingeordnet, ausschließlich mit ihren DEFIZITEN gesehen, aber nicht mit ihren Nöten verstanden.
»Glaubt man den Experten, so scheint eine ganze Generation unaufhaltsam auf die große Katastrophe zuzusteuern und eine gute Entwicklung von Kindern kaum noch möglich zu sein.«
So werden sie von einer Institution zur anderen herumgeschoben, ihr Gefühl, dass sie »anders« und »nicht richtig« sind, verstärkt sich, während ihre Eltern neue, klinische Vokabeln lernen wie »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom«, kurz ADHS. Besorgte, entmutigte oder panische Eltern hocken zuhauf mit ihrem Nachwuchs, der von der Umwelt als »Problemkinder« eingestuft und damit stigmatisiert wird, in den Wartezimmern, lösen Rezepte für Ritalin ein und fühlen sich belastet und schuldig.
Die Legende von Walfischen und Heuschrecken
Eltern erzählen Freunden, Verwandten und Kollegen unsicher von ihrem »schwierigen« Kind. Auch in den Schulen sind »diese Kinder« ein Thema. Sie stören den Ablauf, oh je! Dieses »schwierige« Kind ist ein »Riesenproblem«. Hört man Lehrer oder auch die Eltern der Kinder – durch die Diagnosen der Ärzte verunsichert – reden, könnte man meinen, ein Walfisch habe sich in den Goldfischteich verirrt. Es klingt, als wäre etwas überaus Unnatürliches und Schlimmes passiert, das Kind steht mit seinen vermeintlichen Defiziten plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es passt nicht in unser Bild, es ist im Weg, es »funktioniert« nicht in unserem System.
Sieht man die steigenden Zahlen von verhaltensauffälligen Kindern, könnte man den Experten fast selbst Glauben schenken – und damit leider auch der Botschaft zwischen den Zeilen: Die Kinder wachsen uns über den Kopf, sie werden immer schwieriger, wir stehen machtlos daneben. Das Kind wird zunehmend eher als BEDROHUNG und als BELASTUNG denn als BEREICHERUNG und GLÜCK empfunden. Bei solchen Aussichten ist es kaum verwunderlich, dass Eltern massiv verunsichert sind, eine grundsätzliche Entscheidung, Kinder zu bekommen, noch schwieriger wird, als sie ohnehin schon ist, und dass Kinder zunehmend argwöhnisch beobachtet werden: wie eine Heuschreckenplage, die wir zwar selbst in die Welt gesetzt, über die wir aber längst die Kontrolle verloren haben.
Das eigene Denken und Handeln hinterfragen
Wenn ständig behauptet wird, dass Kinder, die sich nicht so verhalten, wie ihre Eltern oder die Umwelt es erwarten, schnell zu einer Bedrohung der gesamten Gesellschaft werden, dass Unsicherheiten von Eltern und kleine »Fehler« in der Erziehung unserer Kinder folgenschwere Konsequenzen haben können – dann ist es kein Wunder, dass sich Eltern bei der ersten Abweichung von dem von ihren Kindern erwarteten Verhalten irritiert an den nächsten Arzt wenden oder sich mit einer Wand aus Ratgebern umstellen und die darin vorgeschlagenen Maßnahmen und Regeln Schritt für Schritt wie bei einem Backrezept befolgen. Wenn man sich nur an alle Zutaten und Arbeitsschritte hält, dann kommt doch am Ende hoffentlich ein »anständiges« und »normales« – ein für unsere Welt kompatibles –