Es fällt uns schwer, uns aus alten Mustern zu befreien, denn Beziehungsprozesse laufen häufig unbewusst ab. So ist zuallererst und immer wieder ein Blick auf uns selbst ganz wesentlich. Es geht eben nicht (mehr) darum, den Fokus ausschließlich auf das Kind zu richten, es zu manipulieren und auf es einzuwirken, um ein bestimmtes Ziel im Sinne eines erwünschten Verhaltens zu erreichen. Während Erziehung klar definierbare, zielgerichtete, lösungsorientierte Handlungen der Erwachsenen beinhaltet, setzt Beziehung eine offene Haltung dem Kind und seinem Wesen gegenüber voraus, die von Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist.
»Beziehung stellt den gleichwertigen und persönlichen Dialog in den Mittelpunkt und lebt davon, dass beide Partner vom jeweils anderen profitieren wollen.«
Es geht also nicht darum, Kindern lediglich ein demokratisches »Mitspracherecht« einzuräumen, sondern vielmehr darum zu verstehen, dass wir Erwachsene von dem profitieren, was Kinder in eine Beziehung zu uns miteinbringen, was sie denken, fühlen und sagen. Es ist für uns Erwachsene ein großer Gewinn, wenn wir Kinder ernst nehmen und ihnen in einem persönlichen Dialog begegnen können! Wenn wir Erwachsenen uns trauen, uns auf eine echte Beziehung einzulassen, dann wird es uns möglich, von Kindern zu lernen und bestimmte Kompetenzen, wie zum Beispiel Offenheit, Unvoreingenommenheit, Sensibilität – also das, was uns aberzogen und mit Erziehung abtrainiert wurde –, wiederzuerlangen.
Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass sich gelebte Familienstrukturen hinterfragen lassen müssen, etwa wie folgt:
Warum folgen wir noch oft einer alten Machtstruktur und behandeln Kinder wie »Untertanen«, die uns ausgeliefert sind?
Welche Rolle wollen wir als Eltern unseren Kindern gegenüber einnehmen?
Sollten wir überhaupt eine Rolle einnehmen, oder können wir uns als Mensch authentisch zeigen? AUTHENTISCH in dem Sinne, dass wir uns den Kindern mit unseren Gefühlen – und nicht nur mit unseren vermeintlichen Stärken, sondern auch mit unseren Schwächen – offen zeigen.
Nach meiner Erfahrung ist es gut, sich solche Fragen zu stellen, und dazu sind heute auch immer mehr Eltern bereit.
Was ist eine gute Beziehung?
Eine gute Beziehung ist geprägt von Dialog, Offenheit und Toleranz: Der andere wird "mit seinen Bedürfnissen respektiert und auch in seiner Andersartigkeit und Vielfalt akzeptiert. Heute sind wir – wie zu keiner anderen Zeit zuvor – in der Lage, gleichwertige Beziehungen einzugehen, auch wenn es uns schwerfällt und dem eingeübten Hierarchiedenken widerspricht. An fest gefügten Machtstrukturen festzuhalten hilft natürlich, den Alltag zu meistern. Reich über arm, Bildungsbürger besser als »Ungebildete«, Erwachsene den Kindern überlegen – sichtbare oder nur gefühlte Machtstrukturen stehen einer immer neuen Offenheit in einer Beziehung auf Augenhöhe im Weg. Wir stehen uns selbst im Weg.
Die Gründe dafür sind durchaus nachvollziehbar, denn es birgt ein gewisses Risiko, sich auf eine echte Beziehung einzulassen und sich als Mensch zu zeigen. Wir müssen dann nämlich auch zu unseren Schwächen stehen und uns in unserer Rolle als Eltern hinterfragen lassen. Wir müssen Verantwortung übernehmen für das Gelingen eines Dialogs – und der Beziehung zu den Kindern überhaupt. Das haben wir nicht gelernt. Sobald wir dann unsicher werden, greifen wir reflexartig auf etwas Gelerntes, Bekanntes zurück. Diese Prozesse gilt es sichtbar und transparent – und sich so bewusst zu machen.
Es geht mir nicht darum, neue Erziehungsstile oder -modelle zu finden und so die Erziehung zu verändern – da hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder etwas getan. Es geht mir vielmehr darum, Erziehung und ihre Folgen beziehungsweise ihre Wirkung auf uns alle zu entlarven und letztlich zu zeigen, dass wir sie im Umgang mit unseren Kindern nicht brauchen. Ich gehe noch weiter und sage, dass Erziehung oft sogar negative Folgen hat.
»Erziehung ist nicht nur überflüssig, sie richtet häufig auch Schaden an.«
Die Veränderung im Verhältnis zwischen Männern und Frauen hat gezeigt, dass es möglich ist, Grundsätzliches zu überdenken und einen Großteil unserer bisherigen Auffassungen und Vorstellungen infrage zu stellen. Folglich sollten wir auch keine Scheu haben, das Verhältnis zu unseren Kindern zu hinterfragen. Anders als die Frauen, die selbst für ihre Rechte eintreten können, sind Kinder nicht in der Lage, Veränderungen aus sich selbst heraus zu bewirken. Wir brauchen deshalb ein gesellschaftliches Umdenken.
Was das Buch Ihnen bietet
Verschiedene gesellschaftliche Faktoren wie hohe Scheidungsraten, Rückgang der Kinderzahl, nicht eheliche Lebens- und Wohngemeinschaften mit und ohne Kinder und die häufigere Berufstätigkeit der Frau haben zu einer größeren Vielfalt und so gleichzeitig auch zu einem radikalen Wandel der Familienformen geführt. Werte, Normen und Vorstellungen wandeln sich dadurch ebenfalls. Das verunsichert einerseits, bietet andererseits aber auch Chancen und macht Vielfältigkeit und INDIVIDUELLE LEBENSKONZEPTE möglich. So können Eltern heute für ihre Familie nach eigenen individuellen Werten suchen und diese für sich ausprobieren. Auch hierzu soll das vorliegende Buch anregen – neben der schon erwähnten ERMUTIGUNG, das Konzept »Erziehung« ganz hinter sich zu lassen.
Darüber hinaus habe ich Informationen über die Entwicklungsstufen von Kindern zusammengetragen und BINDUNGSTHEORETISCHE UND ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE ERKENNTNISSE in alltagspraktische Beispiele einfließen lassen. Kinder verbringen immer mehr Zeit in Bildungseinrichtungen. Hat sich hier ein Wandel vollzogen? Haben die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse Einfluss auf unser Bildungssystem? Auch solche Fragen werden im Folgenden diskutiert.
Die Gedanken und HANDLUNGSALTERNATIVEN in diesem Buch sollen zum Experimentieren anregen. Sie sind nicht einfach nur zu befolgen und auch nicht als Erziehungshilfen oder im Sinne eines Ratgebers gedacht. Vielmehr sollen sie neue Grundsätze anbieten, die sich aus meiner Erfahrung bewährt haben und als Navigationshilfe im Alltag mit Kindern dienen können, um neue Betrachtungsweisen zu finden und individuelle Wege für sich und die eigene Familie zu gehen.
Eine gesellschaftliche Aufgabe
Eventuell wird mancher Leser an der einen oder anderen Stelle den Eindruck haben, dass einseitig Partei für das Kind genommen wird. Die Haltung zum Kind gesellschaftlich aufzubrechen stellt jedoch keine Parteinahme für das Kind dar und soll auch nicht als Akt der Gerechtigkeit verstanden werden. Wenn sich im Wandel der Zeit die wissenschaftlichen Erkenntnisse über ein gesundes Aufwachsen von Kindern verändern, ist es schlichtweg notwendig, diese Veränderung nach unserem kulturellen Selbstverständnis als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen.
1. WO WIR HEUTE STEHEN
»Zu einem Ende kommen heißt, einen Anfang machen.«
T. S. ELIOT
JEDE MENGE MISSVERSTÄNDNISSE
Die Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für die Bildung sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Im Jahr 2010 waren es 174,8 Milliarden, 2015 194,9 und 2016 waren es bereits 201,6 Milliarden Euro. Ein weiterer Anstieg wird erwartet, nämlich 206,8 Milliarden Euro für 2017 (Bundesfinanzbericht 2019). Auch Familien werden hoch subventioniert. Neben dem Kindergeld können junge Familien seit 2007 auch das Elterngeld in Anspruch nehmen. Die Förderung der Familie vermittels vielfältiger Transferleistungen ist politischer Konsens in Deutschland. Und nicht nur die Familie, sondern auch das Kind selbst soll gefördert werden. Zum BETREUUNGSAUFTRAG ist der BILDUNGSAUFTRAG hinzugekommen. Infolgedessen sind zahlreiche Bildungsinstitutionen mit ebenso zahlreichen pädagogischen Konzepten wie Pilze aus dem Boden geschossen.
»Kinder werden immer früher mit staatlich organisierter Bildung,