Sanktionen und Medikamente
Verunsicherung ist an sich nichts Schlechtes, sie gehört sogar unbedingt zum Elternsein. Solche Empfindungen machen es überhaupt erst möglich, dass wir uns auf unsere Kinder einstellen, dass wir dynamisch und beweglich bleiben. Wenn jedoch nichts als Hilflosigkeit und das Gefühl, man habe versagt, bei den Erwachsenen zurückbleibt, dann ist es nur zu verständlich, dass sie vermeintlich hilfreichen Ratschlägen folgen: Wir Erwachsenen dürfen uns das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen! Wir müssen doch immer wissen, wo es langgeht! Schnell geht es dann zurück ins alte Muster: Strafe wird wieder ein probates Mittel im Umgang mit Kindern. Kindliche Handlungen und Verhaltensweisen, die nicht erwünscht sind, werden sanktioniert.
Und wenn sich Eltern nicht mehr selbst zu helfen wissen, nehmen sie heute ganz selbstverständlich psychiatrisch-ambulante Hilfe in Anspruch und überlassen den vermeintlichen Experten das Feld. Diese Kinder- und Jugendpsychiater, -psychologen und -ärzte hatten in den vergangenen Jahren viel zu tun.
So kritisieren, maßregeln und therapieren wir unsere Kinder, um sie für unser (Erwachsenen-)Leben und unsere Gesellschaft passend zu machen. Dass die Gründe für ihr Verhalten, wenn es unseren Vorstellungen nicht entspricht, von uns selbst geschaffen sind, ziehen wir nicht in Betracht. Es ist deshalb nur scheinbar ein Fortschritt, wenn wir Verhaltensauffälligkeiten und Konzentrationsstörungen von Kindern therapieren lassen. Das Verhalten von Kindern zu pathologisieren, ist die extremste Ausprägung von Erziehung.
Blinde Flecken
Ist es nicht seltsam, dass laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als verhaltensauffällig gilt? Wieso stutzen wir nicht, wenn wir hören, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen innerhalb von 20 Jahren drastisch angestiegen und derzeit nur leicht rückläufig ist? Selbst dass immer wieder von Ärzten diskutiert wird, ob es sich hier nicht um eine »konstruierte Krankheit« handle, lässt kaum aufhorchen. Genauso wenig wie die immer wieder aufgeworfene Frage, ob das Diagnostizieren dieser »Krankheit« – die fast ausschließlich medikamentös, kaum therapeutisch behandelt wird – nicht vor allem der Pharmaindustrie dient.
Man könnte die Aufzählung solcher blinden Flecken lange fortführen: Macht es uns nicht skeptisch, dass Diagnosen häufig beliebig, nach Gutdünken des jeweiligen Arztes und aufgrund einer Handvoll oft recht unklarer Symptome, die Eltern aus ihrer Sicht von zu Hause und aus der Schule berichten, gefällt werden? Warum lässt es uns nicht aufmerken, dass ADHS besonders häufig bei extrem früh eingeschulten Kindern auftritt? »Aufmerksamkeitsdefizite« muss man hier wohl eher uns Erwachsenen attestieren. Schauten wir genauer hin, ergäben sich interessante Fragen. Etwa, ob eine frühe Einschulung entwicklungspsychologisch überhaupt sinnvoll ist und ob wir hiermit nicht selbst unsere Kinder überfordern? Doch offenbar sind wir noch nicht bereit, unseren Umgang mit den Schwächsten in der Gesellschaft grundsätzlich zu hinterfragen.
FAMILIE UND ERZIEHUNG
Die Familienformen und damit auch das Familienleben haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Partnerschaften werden heute um ihrer selbst willen und auf einer emotionalen Basis gegründet. Die Qualität der Beziehung steht im Vordergrund. Wenn diese für die Partner nicht mehr zufriedenstellend ist, gehen Beziehungen (und damit auch Familien) auseinander. Das war noch vor siebzig Jahren anders – ob auch besser, sei dahingestellt. Heutzutage finden sich zudem neue Partnerschaftsformen, Patchworkfamilien und damit ein vielfältiges Geflecht an Beziehungen und familiären Verknüpfungen. Auch haben sich die Rollen innerhalb der Partnerschaft gewandelt. Die Berufstätigkeit der Frau ist heute Normalität und oft zur Sicherung der Existenz notwendig geworden. Der Mann ist nicht mehr der Alleinverdiener. Auch die Bedeutung von Kindern für eine Partnerschaft und der Grad der Aufmerksamkeit, die man ihnen zukommen lässt, haben sich verändert.
»Von eigener Erziehungserfahrung geprägt – oft keiner guten –, sind sich Eltern heute zumeist darüber einig, dass sie es anders machen wollen, als sie es selbst erlebt haben.«
Die am eigenen Leib erfahrenen Kränkungen und Verletzungen wollen junge Eltern ihren Kindern unbedingt ersparen. Kinder brauchen Liebe, Verständnis und Wärme. Sie brauchen aber doch auch – so heißt es überall – klare Regeln und Grenzen. Zwischen diesen Polen schwanken die Eltern. Und je herausfordernder sich der Familienalltag gestaltet, desto verführerischer ist es, sich in kurzfristig wirksame autoritäre Methoden zu flüchten. Kinder sollen und müssen funktionieren, auch Eltern haben nur begrenzte Kräfte – und so werden im Tagesgeschäft gute Vorsätze schnell durch alte Gewohnheiten verdrängt.
Dabei können wir uns heute aber nicht mehr auf Nichtwissen berufen! Denn wir wissen heute viel mehr über die kindliche Entwicklung als in früheren Zeiten. In den letzten Jahrzehnten haben Pädagogik und Psychologie zwar vermehrt mit entscheidenden Erkenntnissen aufgewartet, doch die wurden immer wieder leichtfertig vom Tisch gewischt. Nun jedoch gibt es auch objektive naturwissenschaftliche Befunde. Die BIOLOGIE und die NEUROLOGIE haben langjährige Forschungen betrieben, und die Hirnforschung kann viele bereits gewonnene Erkenntnisse aus ihrer Sicht bestätigen. So wissen wir sicher, dass vieles, was früher an Erziehung stattgefunden hat, Kindern nicht nur nicht gutgetan hat, sondern häufig sogar schädlich war.
Wenn ich nun von einem neuen Umgang und einer veränderten Haltung Kindern gegenüber spreche, dann geht es nicht darum, festzustellen, dass die Generationen vorher alles »falsch« gemacht haben, sondern darum, auf der Basis heutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse darüber, wie sich Kinder gut entwickeln, ein ganz neues Verhältnis zu ihnen herzustellen.
Alte Pfade verlassen, neue Wege gehen
Für dieses neue Verhältnis braucht es bestimmt kein Studium oder einen »Elternführerschein«, um auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen zu können. Erforderlich wäre zunächst ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass Kinder nicht im herkömmlichen Sinne erzogen werden müssen. Dass Respekt und Gehorsam keine kindgerechten Kategorien sind. Dass Kinder stören dürfen. Genauso wie es auch einer GESELLSCHAFTLICHEN AKZEPTANZ bedurfte, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind oder dass die sexuelle Orientierung kein Werturteil über Menschen bedingen darf.
Zwar haben sich gerade im Lauf der Zeit neue Tendenzen herausgebildet, haben sich die Formen und Modelle der Erziehung immer wieder gewandelt. Letztendlich jedoch ist es immer das eine geblieben: Erziehung. Die Modelle haben sich verändert, die grundsätzliche Haltung zu Kindern nur wenig.
Viel Input, wenig Handlungskonsequenz
Denker wie Jean-Jacques Rousseau, der sich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts des Themas Erziehung angenommen hat, haben unser Wissen über »Kindheit« entscheidend erweitert. Johann Heinrich Pestalozzi an der Schwelle zum 19. Jahrhundert oder Maria Montessori in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben wesentliche Beiträge zu einer den Kindern zugewandten Pädagogik geleistet. Inspiriert unter anderem von Sigmund Freud haben Pädagogen, Psychologen und Psychoanalytiker die Fragen nach frühkindlichen Erfahrungen, Traumata und Prägungen zu ihrem Anliegen gemacht. Alice Miller, eine Gewährsfrau auch meiner Arbeit, beschrieb eindrucksvoll die vielen Hemmnisse und Hindernisse der Erwachsenen beim Verstehen von Kindern. Entwicklungspsychologen begreifen und beschreiben heute gut, was Kinder in welchen Stadien ihrer Entwicklung brauchen, wie ihre Bedürfnisse erkannt und beantwortet werden können. Viel angekommen in den Familien und in der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion darüber ist davon jedoch nicht.
Wenn wir uns also auf ein neues Ziel verständigen und Kindern ein gesundes Aufwachsen ermöglichen sowie eine KINDGERECHTE ENTWICKLUNG zugestehen wollen, dann, so bin ich überzeugt, müssen wir ganz neue Wege finden, um das zu gewährleisten. Ich weiß, dass eine solche Situation,