(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
Dieser Artikel garantiert das unantastbare Grundrecht der Eltern, die Erziehungsverantwortung für Kinder zu übernehmen. Hintergrund ist der Schutz vor der staatlichen Allzuständigkeit, wie sie in Deutschland in totalitären Systemen praktiziert wurde, um der Familie einen privaten Schutzraum zuzuerkennen, in dem sich Kinder in einer staatsfernen und von persönlicher Zuwendung durch die Eltern geprägten Kindheit entwickeln können. Und wenn es richtig ist, dass die Familie ein Schutzraum des Privaten ist, so kann die Auslieferung von Kindern an dort praktizierte Gewalt nur durch einen gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel unterbunden werden. Das heißt: keinerlei Gewalt gegen Kinder zuzulassen und ihr nicht tatenlos gegenüberzustehen, weder auf der Straße noch, wenn dies hinter verschlossenen Türen zu hören ist. Der Staat kann nicht in die Familien hineinregieren; JEDER EINZELNE VON UNS IST GEFRAGT, jederzeit und überall einzuschreiten, wenn Kinder misshandelt werden. Familie ist ein Schutzraum des Privaten, aber physische oder psychische Gewalt gegen Kinder ist keine Privatsache.
Noch kein gesellschaftlicher Konsens
Mir begegnen Eltern, in deren Wertvorstellungen Gewalt fest verankert ist. Ich treffe auch auf Eltern, die ihre Kinder ab und zu schlagen, denen »die Hand ausrutscht«, denen »der Kragen platzt«. Und auch wenn manche hinterher von einem schlechten Gewissen geplagt werden, scheint das Bewusstsein für die Folgen von derartigen erzieherischen Maßnahmen wenig entwickelt. Zwischen »Nein, das sollte man nicht machen« und »Wieso nicht? Ein Klaps hat noch keinem geschadet« gibt es viele verschiedene persönliche Ansichten. Ganz so, als ob es Privatsache von Eltern wäre, ihr Kind zu schlagen.
Dabei ist die JURISTISCHE SACHLAGE klar. Kinder haben längst ein gesetzlich verbrieftes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. § 1631 Abs. 2 BGB: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Dieser Paragraf wurde im Jahr 2000 novelliert; vorher hatte es im Gesetzestext weit weniger eindeutig und entschieden geheißen: »Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.« Die Stärkung der Kinderrechte durch diese – wenn auch recht späte – Novellierung ist begrüßenswert. Doch die eigentlich notwendige staatliche und gesellschaftliche Kampagne, die hätte folgen müssen, blieb bis heute aus. Es scheint keine wirkliche Einigung auf einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu geben – einer Verhaltensänderung muss immer eine Haltungsänderung vorausgehen. Diese Haltungsänderung hat gesamtgesellschaftlich (noch) nicht stattgefunden.
Es ginge auch anders
Schaut man hingegen nach Schweden, findet man ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Haltung einer ganzen Generation und aller Generationen, die auf sie folgen werden, verändert werden kann.
In Schweden wurde das Gesetz gegen die Züchtigung von Kindern im Jahr 1979 verabschiedet. Natürlich führte diese Tatsache allein nicht dazu, dass Eltern ihre Haltung und ihr Verhalten änderten. Die schwedische Regierung begleitete – auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern nach Alternativen zu den herkömmlichen Erziehungsmethoden – das neue Gesetz mit einem ausführlichen »Kinder- und Eltern-Kodex« und startete eine breit angelegte Aufklärungskampagne. Slogans gegen die Züchtigung von Kindern wurden auf Milchpackungen gedruckt. Zudem fand jeder Haushalt in seinem Briefkasten eine Broschüre mit dem Titel »Wie erziehe ich mein Kind ohne körperliche Züchtigung?«. Diese Broschüre, in der praktische Fragen der Erziehung und des Alltags diskutiert und Tipps gegeben wurden, wurde zu einer Art Leitfaden einer neuen, »positiven« Elternschaft. Zudem wurde eine Meldepflicht eingeführt: Wer bemerkt, dass Eltern ihr Kind schlagen oder in anderer Weise züchtigen, muss dies anzeigen. Gewalt gegen Kinder, so war die EINDEUTIGE BOTSCHAFT, die heute für jeden Schweden eine Selbstverständlichkeit ist, ist keine Privatsache.
Was dieser Haltungswandel bewirkt, zeigt ein Fall aus dem Jahr 2011. Ein italienischer Lokalpolitiker hatte seinen zwölfjährigen Sohn im Urlaub in Stockholm bei einem Streit über die Wahl eines Restaurants geohrfeigt. Der Vater wurde festgenommen und verbrachte drei Tage in Haft.
Gewalt ist und bleibt Gewalt
Zurück nach Deutschland: Die Deutsche Kinderhilfe setzt sich seit Jahren für Kinderrechte ein und fordert einen Nationalen Aktionsplan Kinderschutz, der auf Kampagnen und eine gezielte Beratung und Unterstützung der Eltern setzt. Sie plädiert für einen gesamtgesellschaftlichen Mentalitätswandel und mahnt, bei Gewalt müsse der Null-Toleranz-Grundsatz gelten.
»Ohne bürgerschaftliches Engagement und eine Kultur des Hinsehens wird es nicht gelingen, Gewalt gegen Kinder zu ächten. Dazu bedarf es aber auch des politischen Willens.«
»Gäbe es vergleichbare verheerende Zahlen über rassistische, homophobe oder antifeministische Gesinnungen in der Gesellschaft, würde es zu Recht einen Aufschrei aller Interessengruppen, Gewerkschaften, Parteien, Verbände bis hin zu den Kirchen geben. Die tägliche Gewalt gegen Kinder in Deutschland sollte Gleiches hervorrufen«, so Georg Ehrmann, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe.
Keine Frage: Spätestens seit den siebziger Jahren hat sich in Deutschland einiges geändert in der Art und Weise, wie wir Kinder in unserer Gesellschaft wahrnehmen und mit ihnen umgehen. Wenn wir jedoch die Augen vor den Folgen von Gewalt an Kindern verschließen, haben wir nicht wirklich etwas erreicht.
Ein kleiner Klaps hat noch niemandem geschadet?
2005 – fünf Jahre nach der Novellierung des §1631 Abs. 2 BGB – sorgte ein Berliner Generalstaatsanwalt für Aufruhr, als er öffentlich bekannte: »Einen Klaps lasse ich mir nicht verbieten.« Mit diesem Statement wurde eine neue Diskussion über den Sinn und Unsinn von körperlicher Gewalt, Ohrfeigen und Klapsen angestoßen. Jeder Klaps schadet! Die Haltung, dass die Erwachsenen ihre Macht über Kinder gewaltvoll ausüben dürfen, zeugt von einer geradezu archaischen, tief verwurzelten, oft selbst erfahrenen und nicht verarbeiteten Verletzung. Gewalt ist Gewalt. Genauso wenig, wie Frauen »ein bisschen schwanger« sein können, gibt es »ein bisschen Gewalt«. Dabei rechtfertigen Eltern ihr Tun meist als notwendige Erziehungsmaßnahme.
Eine Mutter ist an einem sonnigen Frühlingstag mit ihrer einjährigen Tochter auf dem Weg zum Spielplatz. Das Mädchen sitzt im Kinderwagen und schaut interessiert in die Welt. Die Mütze rutscht ihr über die Augen, und sie zieht die störende Kopfbedeckung vom Kopf. Die Mutter wird nicht müde, ihr aus Sorge die Mütze immer wieder schützend über die Ohren zu ziehen. So entwickelt sich ein Hin und Her, und die Unzufriedenheit von Mutter und Kind steigert sich sekündlich. »Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann muss ich dir wehtun! Wer nicht hören will, muss fühlen«, sagt die Mutter schließlich, nimmt die Hand des kleinen Mädchens, schlägt einmal fest zu und setzt ihm dann mit Nachdruck die Mütze wieder auf den Kopf.
Freunde haben zum gemeinsamen Essen eingeladen. So sitzt ein junges Elternpaar mit seinem anderthalbjährigen Sohn am Tisch des befreundeten Pärchens. Der volle Teller steht vor dem Jungen, und er greift zu. Der Vater steht daraufhin auf, nimmt den Jungen vom Stuhl und stellt ihn vor sich hin. Mit der flachen Hand schlägt er ihm dann an den Kopf, nimmt ihn grob am Arm und setzt ihn unsanft wieder auf den Stuhl zurück. Die Freunde der Eltern sind schockiert und fragen verwundert nach, woraufhin der Vater mit Überzeugung in der Stimme begründet: »Wir beginnen immer gemeinsam mit dem Essen. Das weiß er ganz genau. Er muss lernen, dass er nicht alles mit uns machen kann und uns respektvoll begegnen soll.« Die Freunde der Eltern werfen ein, dass der Kleine doch erst anderthalb Jahre alt sei, der Vater jedoch beharrt auf seiner Meinung.
In beiden Situationen übernehmen die Erwachsenen keine Verantwortung für ihr Handeln, im Gegenteil: Sie suggerieren noch, dass das Kind selbst daran schuld sei, dass es geschlagen wird. Für den Vater des kleinen Jungen gehört Gewalt als allgemein akzeptiertes Erziehungsmittel zum Umgang mit Kindern selbstverständlich