»Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.«
ASTRID LINDGREN
ERZIEHUNG DIENT NUR DEN ERWACHSENEN
Erziehung! Ein Thema, das jeden betrifft. Und ein Wort, das stets ein Adjektiv mit sich führt: gute Erziehung, schlechte Erziehung, autoritäre, moderne, demokratische Erziehung. Die Debatte ist von großer Leidenschaft und Schärfe geprägt. Hier prallen Menschen- und Gesellschaftsbilder in oft unversöhnlicher Härte aufeinander. Und nun komme ich – aufgrund meiner öffentlichen Rolle von vielen immer wieder gern in erprobte Erziehungsschubladen gesteckt – und sage: Vergesst Erziehung! Denn jede Art von Erziehung dient nur als Schutzschild der Erwachsenen, um sich vor der Beziehung zu Kindern zu schützen. Kinder hingegen brauchen keine Erziehung, Kinder brauchen vor allem Beziehung!
Sich öffentlich über Erziehung zu äußern, noch dazu mit unkonventionellen Positionen, ist heikel. Das habe ich immer wieder erlebt. Denn es bringt fest gefügte Vorstellungen von Eltern, aber auch von Fachkräften, durcheinander und stellt ihr Weltbild infrage. Erziehung ist ein hochemotionales Thema, das zeigen die oft hitzigen Diskussionen über das »Richtig« oder »Falsch« im Umgang mit Kindern. Schnell wird gewertet. Schnell fühlt man sich bewertet oder gar abgewertet. Das mag damit zusammenhängen, dass wir uns alle betroffen (und deshalb mitunter auch angegriffen) fühlen. Denn:
Wir alle waren mal Kind,
jeder und jede hat Eltern und eine Geschichte mit ihnen und
wir alle sind einmal erzogen worden.
Das immerhin verbindet uns.
Wir alle haben eine Meinung zu diesem Thema, weil wir alle unsere eigenen Erfahrungen in diesem sehr persönlichen Kontext gemacht haben. Und in diesen ordnen wir nun Aspekte ein, die uns zum Thema Erziehung begegnen. Das macht oft ratlos. Darin besteht jedoch eine Chance, neue Wege im Umgang mit unseren Kindern zu gehen.
Wie es immer noch oft ist
Erziehung betrifft nicht nur uns persönlich und unsere Familie, sondern steht auch im Zusammenhang mit unserem grundsätzlichen Verständnis davon, was Kinder sind und wie wir Kinder sehen, und unserer Vorstellung davon, wie wir mit ihnen umzugehen haben. Das sind Fragen, die unmittelbare Auswirkungen auf gesellschafts- und familienpolitische Konzepte und Maßnahmen haben.
Erwachsene haben von jeher gedacht, ein Kind sei noch kein »richtiger« Mensch. Die Überzeugung ist, ein Kind komme defizitär und halbfertig auf die Welt und müsse erst durch »Behandlung«, den Einfluss und die Einwirkung von Erwachsenen, zum Menschen gemacht werden. Die Menschwerdung geschieht nach dieser Vorstellung zum einen, indem das Kind ein bestimmtes Alter erreicht, zum anderen, indem der Erwachsene rigoros auf das Kind einwirkt, es beeinflusst und durch Manipulation dazu bringt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. So haben Erwachsene durch alle Zeiten hindurch versucht, Methoden zu finden, um Kindern beizubringen, wie man sich »richtig« benimmt und ein »ordentliches« Gesellschaftsmitglied wird. In diesem Sinne ist Erziehung die – durch bestimmte Normen geleitete – Einübung von gesellschaftlich erwünschten Verhaltensweisen und Vermittlung entsprechender Kompetenzen.
Kinder sind heute zum Spielball geworden in einer Debatte, die häufig von Schuldzuweisungen geprägt ist. Von Eltern wird gefordert, mehr und besser zu »erziehen«, während gleichzeitig anderswo die Forderung laut wird, die Institutionen, zum Beispiel die Schule, sollten mehr Erziehungsaufgaben übernehmen. Dadurch ist der Druck auf allen Seiten enorm gestiegen, die Verunsicherung groß.
Umdenken ist nötig
Als Mutter habe ich mir – wie viele andere Eltern auch – vorgenommen, es ganz anders zu machen, als ich es selbst erlebt habe. Also habe ich eigene Erfahrungen gesammelt, Fachbücher gelesen, studiert, im Alltag Neues ausprobiert und immer wieder mit anderen diskutiert. Was ist im Umgang mit Kindern richtig, was falsch? Wie verhält man sich in der Rolle als Mutter oder Vater richtig?
Wichtige Erkenntnisse
Die Entwicklungspsychologie hat längst widerlegt, dass Kinder als unfertige Wesen auf die Welt kommen, die erst nach und nach zu ›richtigen‹ Menschen werden. Es liegen genügend wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entwicklung von Kindern vor und darüber, was sie brauchen, um gut aufwachsen zu können. Diese Erkenntnisse haben jedoch eklatant geringen Einfluss auf die pädagogische Praxis. Die Forschung betont einhellig, wie wichtig die Qualität der Bindung und Beziehung zu unseren Kindern ist. Zwischen der »Geisteswissenschaft« Pädagogik und den naturwissenschaftlich geprägten Forschungsrichtungen scheint eine unüberwindbare Mauer zu stehen, die uns in der erzieherischen Praxis daran hindert, die Bedeutung der Forschungsergebnisse zu erkennen, sie einzuordnen, zu verknüpfen und Konsequenzen im Sinne der Kinder daraus abzuleiten. Wir sind deshalb noch weit von einer Umsetzung und Integration des neuen Wissens in den Umgang und Alltag mit Kindern entfernt.
Als Pädagogin und Therapeutin habe ich eine Zeit lang gedacht, Erziehung solle vor allem von demokratischen Regeln, Verständnis und Wertschätzung den Kindern gegenüber geprägt sein. Ich verstand das als Weiterentwicklung moderner Erziehungskonzepte, als eine Abkehr von der autoritären Erziehung, die moralisiert und straft. Ich dachte lange, wir seien im modernen Zeitalter der Erziehung angekommen. Heute denke ich anders. Heute halte ich Erziehung im herkömmlichen Sinne generell für UNNÖTIG und ÜBERFLÜSSIG! Die vielen Menschen, die mir bei meiner Arbeit begegnen, haben zu dieser Überzeugung beigetragen, und nicht zuletzt auch meine Erfahrung als Mutter.
Befreiung der Kinder aus starren Konventionen
Wir können uns von der Vorstellung lösen, dass Kinder aktiv erzogen werden müssen. Erziehung bringt dem Kind nichts, ist nicht im Sinne des Kindes und hilft nur den Erwachsenen. Erziehend schneiden wir Kinder passfähig für die Welt der Erwachsenen, wir berauben sie vieler ihrer Potenziale und Möglichkeiten – bestenfalls, um ihnen vermeintlich gute Chancen in der Erwachsenenwelt zu eröffnen, schlimmstenfalls, um unserer Überforderung angesichts von Schwierigkeiten im Erziehungsalltag Herr zu werden.
Ich sehe deshalb die Notwendigkeit einer generellen Wende im Umgang mit unseren Kindern. Hin zu etwas ganz Neuem, jenseits von Erziehung. Ich bin der Überzeugung, dass nach der emanzipatorischen Gleichberechtigung der Frau auch Kinder aus erstarrten gesellschaftlichen Herrschaftskonventionen »befreit« werden können.
Es geht nicht um ein neues Erziehungsmodell
Wenn ich hier das Traditionelle infrage stelle und mit neuen Gedanken vergleiche, dann nicht, um herkömmliche Konzepte abzuwerten, sondern um die Unterschiede zu meinem Ansatz deutlich zu machen. Ich denke, dass sich unsere heutigen Erziehungsstile von früheren im Kern kaum unterscheiden und dass wir nach wie vor – besonders bei Konflikten – unsere eigenen Interessen vorwiegend machtvoll gegenüber denen des Kindes durchsetzen. Damit verstecken wir uns letztendlich hinter Erziehung, anstatt als Mensch in einer authentischen Beziehung den Kindern gegenüber sichtbar zu werden. Wir meinen, uns von der autoritären Erziehung abgewandt und zu einem neuen, modernen Erziehungsstil gefunden zu haben. Die Praxis – ob in Schule, Kita oder der eigenen Familie – sieht anders aus. Nach wie vor wollen wir Kinder zu einem bestimmten Verhalten bringen und anderes Verhalten mit Macht (manchmal auch Gewalt) unterbinden.
Ich erlebe in der Elternberatung und im Kontakt mit Lehrerinnen und Erziehern immer wieder, dass nicht nur Unsicherheit, sondern auch eine große OFFENHEIT FÜR NEUES vorhanden ist. Mit diesem Buch möchte ich nicht nur einladen, sich auf etwas ganz Neues einzulassen, und ermutigen, einen ganz anderen Blickwinkel einzunehmen. Ich möchte auch begründen, warum ich das gesamte Modell der Erziehung für hinfällig halte. Dass es gute Gründe gibt, nicht etwa ein Erziehungsmodell gegen ein anderes auszutauschen, sondern die Idee des Erziehens insgesamt hinter sich zu lassen und sich etwas Neuartigem zuzuwenden: der Beziehung zu Kindern!
BEZIEHUNG DIENT DEN KINDERN – UND UNS