Der Kurator trat zu Amy, um zu erfahren, was sie in solches Erstaunen versetzt habe. Sie zeigte auf das Porträt.
Mr Al-Budai erklärte ihr: »Das ist ein Bildnis des Gottes Anubis, eines der ältesten Götter des alten Ägyptens. Er ist hier in diesem Saal besonders dargestellt, weil er die Menschen in ihr Leben nach dem Tode begleitete und eine wichtige Rolle bei allen Riten für die Verstorbenen spielte. In der rechten Hand hält er das ›Was-Zepter‹, das Machtsymbol eines Gottes, in der linken den ›Anch‹, den wir auch Henkelkreuz oder ägyptisches Kreuz nennen, das Zeichen für das Weiterleben nach dem Tode. Wenn es Sie interessiert, werde ich Ihnen gern anschließend weitere Einzelheiten zu seiner Rolle im ägyptischen Pantheon erzählen, die sich über die Jahrtausende allerdings etwas verändert hat. Aber warum waren Sie eben so erstaunt und fast erschrocken?«
»Ich habe einen Hund, der hier aus Ägypten stammt, und dessen Kopf genauso aussieht wie der dieses Gottes Anubis.«
»Es gibt diese Rasse seit uralten Zeiten. Sie ist allerdings sehr selten und kommt allenfalls noch in einigen Orten am oberen Nil vor, besonders in der Nähe des ehemaligen Hauptheiligtums von Anubis auf einer Insel im Nil bei einem kleinen Ort El Kays, der früher von den Griechen bezeichnenderweise ›Cynopolis‹ genannt wurde – Stadt der Hunde. Die Hunde galten als Inkarnation des Gottes und wurden, wie alle Dinge, die mit dem Totenreich zu tun haben, von den Menschen mit großer Scheu und Vorsicht behandelt. Bei manchen Menschen in unserem Lande hält sich ein solcher Aberglaube bis heute.«
Amy dachte an das Verhalten von Abud und einiger Arbeiter im Hotel.
»Aber warum trägt dieser Gott denn diesen Hundekopf?«
»Die alten Ägypter sahen einen engeren Zusammenhang zwischen Tieren, Menschen und Göttern als wir heute. Sie wussten, dass die Götter und die Tiere, die sie in Ägypten umgaben, viel älter waren als sie, die Menschen, und deswegen einander auch näher. In den Tieren lebten die Götter und umgekehrt. Deshalb war es nur natürlich, den Gott in Tiergestalt oder in der Gestalt eines Menschen mit dem Antlitz eines Tieres oder umgekehrt darzustellen. Die Sphinx trägt ein menschliches Antlitz auf einem Löwenkörper. Die Götter Ra und später Horus tragen einen Falkenkopf. Andere einen Widderkopf. Apis, der Gott der Fruchtbarkeit, wird als Stier dargestellt, ein anderer, Sofar, in der Gestalt oder mit dem Kopf eines Krokodils, eines Affen, eines Geiers oder einer Schlange. Am merkwürdigsten kam mir immer die Gestaltung der Göttin Ammit vor, deren Kopf der eines Krokodils mit Löwenmähne war, darunter mit einem Menschenkörper und dem Hinterleib eines Nilpferds. Sie war die Göttin, die die Toten verschlang, wenn sie bei der Gewichtung des Herzens, das übrigens Anubis überwachte, zu leicht für ein Leben nach dem Tode befunden wurden.
In allen Grabstätten gab es einen Anlass, den Gott Anubis darzustellen, so wie hier, halb Mensch, halb Hund oder in der Gestalt eines großen schwarzen Hundes, wie er in der Totenkammer für Tutanchamun im Tal der Könige gefunden wurde. Der Hund soll eine Glorifizierung des grauen Wüstenwolfs sein. Früher meinte man allerdings, dass das Vorbild ein Schakal gewesen sei, weil die Kopfform mehr der eines Schakals ähnelt. Aber wer kann das wissen? Die Zeit, in der sich diese Dinge entwickelten, liegt mittlerweile um die sechs- bis siebentausend Jahre zurück. Schwarz ist er jedenfalls, weil Schwarz die Farbe des Nilschlamms ist, die wichtigste Identifikationsfarbe dieses Landes. Wir haben sie schließlich sogar in unserer Fahne.«
Das, was sie da eben gehört hatte, machte Amy zu schaffen. Sie dachte an Blackies Verhalten an Friedhöfen und Grabstätten und sah sich plötzlich tausend Fragen gegenüber. Sie bedankte sich bei dem Kurator für seine Erklärungen und bat darum, ihn am Ende noch etwas weiter befragen zu dürfen.
Der Kurator lud sie später zu einem frugalen Lunch im Museumscafé ein, wo Amy ihm über Blackie und seine Eigenheiten und Taten berichtete. Das wiederum fand bei Mr Al-Budai, dem Kurator, einem Professor für Geschichte und Mythologie der Universität von Kairo, uneingeschränktes Interesse. Amy zeigte ihm zwei Fotos, auf denen der Gelehrte unschwer die Anubis geweihte Hunderasse erkannte, die, wie er erklärte, von den Ägyptern auch ›Anubis-Hunde‹ genannt würden.
Als er erfuhr, dass die Burgess’ noch den Besuch von Luxor und danach Assuan planten, gab er ihnen seine Karte und schrieb ein paar arabische Wörter auf die Rückseite und den Namen Ernest Graham.
»Er ist Kurator im ›Tal der Könige‹ bei Luxor, das Sie sicher besuchen werden. Er ist ein Freund und wird sich gut um Sie kümmern. Ich werde Sie ihm avisieren. Außerdem empfehle ich Ihnen auf der Weiterfahrt nach Assuan einen kurzen Aufenthalt im Ort El Kays zu machen und die Reste des alten Tempels des Anubis auf der Nilinsel zu besuchen, was vielleicht nicht ganz einfach zu arrangieren ist, weil es nicht in den normalen Fahrplänen der Kreuzfahrtschiffe vorgesehen ist. Der Tempel ist uralt und zeigt natürlich nicht so viel her wie das, was Sie in Luxor sehen und sonst auf der Route. Aber bei Ihrem Interesse an dem, was Ihr Hund möglicherweise verkörpert, könnte ich mir vorstellen, dass sich der Aufenthalt lohnt.«
Nachts träumte Amy zum ersten Mal von Blackie. Zunächst erschien er ihr, wie sie ihn kannte, als der Hund, der ihr Gefährte war. Dann verwischte sich das Bild mit dem des Gottes Anubis aus dem Museum, der sich riesengroß über sie beugte. Der Gott sprach auch mit ihr. Aber, als sie morgens aufwachte, konnte sie sich nicht erinnern, was er ihr gesagt hatte.
Am Ausflug zu den Pyramiden bei Giseh nahm Blackie teil. Er wartete geduldig, während Oberst Burgess und nach einigem Zögern auch Amy sich einem der Führer für einen Kamelritt um die Pyramiden vorbei an der großen Sphinx mit anschließendem Besuch einer der Grabkammern in der Cheopspyramide anvertraut hatten. Auf diesem Wege benahm der Hund sich mehrfach sehr merkwürdig. Er blieb immer wieder stehen, an den Pyramiden selbst und an den Mastabas, auf dem westlichen und im östlichen Friedhof, legte seinen Kopf zurück und ließ einen tiefen Laut hören, kein Bellen, sondern eher ein Heulen, wie eine Wehklage. Es war nur kurz und keiner konnte Anstoß daran nehmen. Nur ein paar Kameltreiber sahen erschrocken zu dem Hund hin und machten Bewegungen, als wollten sie niederknien. Amy bekam fast ein bisschen Angst vor ihrem Hund. Ihr gegenüber ließ er überhaupt keine Änderung seines bisherigen, anhänglichen Benehmens erkennen.
Die sechs Tage in Kairo gingen nach einem Tagesausflug zum alten Memphis und zur Stufenpyramide von Sakkara und einem Ausflug per Schiff in das Nildelta bis zum Tempel von Dendera schnell vorüber und verliefen darum zur besonderen Zufriedenheit von Oberst Burgess, weil er den Besuch eines höheren Offiziers der ägyptischen Armee erhielt, der ihn als ehemaligen Offizier einer befreundeten Nation würdigte und zu einem Besuch seines Offizierskasinos einlud.
Die Fortsetzung des Urlaubs fand auf dem etwas älteren, aber besonders luxuriösen Nilkreuzfahrtschiff ›Alexandria‹ statt, das sich bei aller Modernisierung seiner technischen Einrichtungen die Atmosphäre eines guten englischen Klubs bewahrt hatte. Das Doppelapartment im oberen der beiden Hotel-Stockwerke war bequem und sah einen Platz für Blackie vor, der von dem Personal mit zwei anderen Hunden, die auch mit an Bord gekommen waren, aufmerksam und, wie es Amy erneut schien, fast ehrfürchtig behandelt wurde. Seinen Auslauf fand der Hund meistens abends, wenn das Boot an einem der Nilorte anlegte.
Meistens hielten sich Vater und Tochter Burgess im Verlauf des Tages auf der Aussichtsplattform auf dem Oberdeck auf, wo man unter Sonnensegeln einen Blick über den Fluss und die Uferregion hatte und den leichten Wind genießen konnte, der ständig über dem Nil hinzog. Während Amy las, in ihrem Tagebuch schrieb oder ihren Hund beobachtete und nur gelegentlich einen Blick über das Wasser und auf die Uferregion warf, hatte Oberst Burgess oft das Fernglas am Auge und wunderte sich vor allem über das Nebeneinander von Baumaßnahmen und technischen Einrichtungen eines sich modernisierenden Staates und von Dingen, die es gegeben haben mochte, solange es den Nil und eine Zivilisation im Niltal gab. Da waren auf dem Wasser die alten Nilbarken, sogenannte Feluken mit ihren Trapezsegeln, auf denen Personen- und Frachtverkehr des Landes seit Jahrtausenden stattgefunden hatte oder die Wasserschöpfräder am Uferrand, die den Wassersegen den Feldern im engen Niltal zuführen. Die Eindrücke eines uralten Landes überwogen immer mehr, je weiter sie nach Süden kamen.
Blackie lag auf dem Sonnendeck meistens im Schatten neben Amys Liegestuhl. Nur manchmal stand er auf und ging an die Reling und schaute, wie es schien,