»Manchmal denke ich, dass es hier wie dort keinen Winkel gibt, in dem nicht gesucht wurde. Nicht nur von uns, den Erforschern der ägyptischen Vergangenheit, sondern vor allem auch von denen, die sich seit der Antike illegal an den verborgenen Schätzen bereichern wollten. Andererseits fehlen uns doch noch die Grabstellen für etliche Pharaonen und der ihnen nahestehenden Personen aus dieser Epoche der ägyptischen Geschichte, der der 17. bis 20. Dynastie. Irgendwo begraben müssen sie sein. Mich sollte es nicht wundern, wenn irgendwann einmal wieder ein aufsehenerregender Fund gemacht wird.«
Blackie lag derweil vor der Schwelle des Esszimmers und schien dem Gespräch zuzuhören. Er gab keinen Laut von sich.
Am nächsten Morgen stand Graham mit seinem Landrover pünktlich am Liegeplatz der Alexandria und nahm die beiden Burgess und den Hund auf, die Sonne stand bereits am Himmel, es war frisch.
»Die beste Zeit für diese Besichtigung. Ich mache meine Besuche drüben meistens um diese Zeit.«
Die Fahrt ging flott über die große Luxor-Brücke hinüber auf die Westseite und dann nach Norden. Geredet wurde nicht viel. Zwanzig Minuten später waren sie vor dem Eingang zum Tal der Könige. Die Wärter schlossen das Tor auf und Graham stellte seinen Wagen vor dem Verwaltungsgebäude ab. Der Fußmarsch begann über die sauber geharkten, von aus Beton gegossenen Begrenzungssteinen eingefassten Wege. Nur wenige Menschen – Wach- und Reinigungspersonal – waren zu sehen.
Vor ihnen lag der Eingang zum Tal, das an beiden Seiten durch verkarstete Berge begrenzt wurde, deren oben glatten Hügel in der Morgensonne fast hellrot glänzten, mit braunen bis lila Schatten in den Schründen an einigen Bergflanken und an den der Sonne abgewandten Stellen. Während manche der Hügel fast wie riesige Dünen wirkten, war doch sichtbar, dass es sich um ein uraltes Gebirge handelte. Überall gab es stark verwitterte steile Abstürze und Eingänge zu Seitentälern, als wenn es sich um ein vor Tausenden von Jahren ausgetrocknetes Flussbett mit Seitenarmen handele. Kein Busch oder Baum war zu sehen. Die morgendliche Stille wurde nur durch das entfernte Pochen eines Dieselmotors unterbrochen.
»Eigentlich sieht es hier aus, wie ich mir eine Mondlandschaft vorstelle, Papa«, meinte Amy.
»So ganz unrecht hast du da wohl nicht, Amy. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass man sich in einer ganz besonderen Umgebung befindet. Besonders, wenn man sich die Leichenbegängnisse vorstellt, die diesen Weg entlanggezogen sind!«
Sie kamen an den ersten Abzweigungen von ihrem eingefassten Fußweg vorbei. Diese Abzweigungen führten auf längeren oder kürzeren Wegen zu den einzelnen Grabstätten, in den Berg links oder rechts getriebenen Stollen mit einfachen oder mit einem besonderen steinernen Rahmen eingefassten Zugängen.
Professor Graham begann mit seinen Erläuterungen. Er redete ein bisschen über die Geschichte der Entdeckung dieser Nekropole, sagte, dass alle Gräber in einem KV-Verzeichnis nummeriert seien, wobei die Abkürzung KV für ›Kings’ Valley‹ – Tal der Könige – stehe. Diese Öffnung an der linken Seite zum Beispiel sei die Grabstätte KV5, das ehemalige Grab von Söhnen des Pharao Ramesses II. aus der 20. Dynastie, mit um die 120 Kammern eine der größten Grabanlagen des Tals überhaupt. Etwas weiter, KV6 sei das Grab Ramesses II., oder Ramses II, wie er früher genannt wurde, einer der größten Pharaonen, selbst. Wie die meisten der Gräber seien sie bei ihrer Entdeckung bereits von Grabräubern geplündert gewesen und das meistens nicht neuerdings, sondern bereits zu Zeiten des alten Ägyptens, wie man aus Papyri wisse. Man habe aus den verbliebenen Inschriften jedoch die Namen der Begrabenen identifizieren können.
Sie kamen in einen Abschnitt, wo sich das Tal weitete.
»Hier und in unmittelbarer Nähe sind besonders viele Gräber, unter anderem das von Tutanchamun, das den Grabräubern entging und, wie schon gesagt, erst 1922 von Carter entdeckt wurde. Es erhielt die trockene Bezeichnung KV62 und war eine Sensation. Die Schätze, die in dem Grab gefunden wurden, einer Anlage, die über eine steile Treppe in eine verwinkelte Anlage mehrerer Kammern führte, waren spektakulär. Es dauerte Jahre, sie zu bergen und zu katalogisieren. Sie kennen sicher Bilder, zum Beispiel von der goldenen Totenmaske, dem berühmten Alabastergefäß, dem Totemwagen und andere. Zu ihnen gehörte übrigens auch eine große Statue des Anubis in der Gestalt eines Hundes. Sie werden sehen. Allerdings sind die originalen Fundstücke in keinem der Gräber mehr verblieben. Nur noch einige Nachbildungen.«
Sie waren inzwischen vor dem Eingang zur Grabkammer KV62 angekommen. Der Mitarbeiter, der sie begleitete, schloss die Außentür auf, schaltete die Beleuchtung ein und sie begannen ihren Abstieg. Blackie war ohne Aufforderung vor dem Eingang liegen geblieben.
»Wir können sicher sein, dass uns niemand, jedenfalls kein hiesiger Ägypter, stören wird, solange der Hund in der Pose vor dem Eingang liegt«, hatte Ernest Graham gemeint.
Nachdem sie die erste Türöffnung hinter sich gelassen hatten, ging es einen Gang schräg abwärts zur nächsten Türöffnung, zur sogenannten Vorkammer, in der es bei der Öffnung des Grabes angeblich ein Durcheinander von Dingen gab, die bei den Grablegungen gebraucht worden waren.
Die Räume der Grabanlage waren gut ausgeleuchtet. Es herrschte die sprichwörtliche Grabesstille, sodass jeder seinen eigenen Atem, das Herzklopfen, die Schritte und das Rascheln der Kleidung zu hören meinte. Im Vorraum begann Graham wieder mit seinen Erläuterungen. Unwillkürlich dämpfte er seine Stimme und auch die Burgess wagten kein lautes Wort, wenn sie Fragen hatten. Die Wände waren mit Ausnahme einiger Schriftzeichen undekoriert, nur ein paar Kultgefäße standen davor. Durch eine weitere Türöffnung, die, wie Graham betonte, ursprünglich geschlossen und vom Entdecker Carter trotz der berühmten Verfluchung aller Eindringlinge gewaltsam geöffnet worden war, kam man dann in die eigentliche Grabkammer, in der ursprünglich die Mumie des Pharaos bestattet gewesen war.
»Hier stand sozusagen sein Totenhaus. Sie kennen ja die prominente goldene, zum Teil blau emaillierte Totenmaske des Tutanchamun, die den Kopf der Mumie bedeckte. Die Mumie war eingeschlossen von mehreren bemalten Särgen, die ihrerseits in den granitenen Sarkophag eingeschlossen waren. Und der wiederum war seinerseits von vier immer größeren hölzernen und bemalten Truhen umschlossen. Der ganze Raum war damit ausgefüllt. Erst jetzt, da sich dies alles, einschließlich der Mumie selbst, im Ägyptischen Museum in Kairo befindet, kann man die Ausmalung der Grabkammer richtig erkennen und würdigen.«
Die Farben leuchteten im Licht der gut platzierten Lampen. Besonders eindrucksvoll war die Gruppe an der Nordwand, die darstellt, wie der Pharao, gefolgt von seinem Ka, dem ihm identischen Abbild seiner Seele, vom Gott der Unterwelt Osiris empfangen wird.
»Warum ist Osiris denn ganz in Weiß mit grüner Gesichtsfarbe dargestellt?«, wollte Amy wissen.
»Weiß war für die alten Ägypter die Farbe der Unterwelt und die grüne Gesichtsfarbe deutete an, dass Osiris nach ihrer Vorstellung immer wiedergeboren wurde.«
Graham las ihnen einige Grabinschriften vor und übersetzte sie, dann wies er auf die Südwand, wo die Bemalung Reste weiterer Götter darstellten, die Tutanchamun begleiteten, unter anderem auch der Gott Anubis, von dem allerdings nur noch Teile zu sehen waren.
Er zeigte ihnen einen kleinen Annexraum, in dem ursprünglich Grabbeigaben aller Art gestapelt waren und schließlich den sogenannten ungeschmückten Tresorraum, der durch eine Wandöffnung betreten werden konnte. In ihm stand eine Abbildung des Anubis als liegender Hund, eine Nachbildung des Originals im Ägyptischen Museum.
»Hier ist Ihr Blackie, Miss Burgess. Vielleicht etwas schlanker dargestellt, als Ihr Hund es ist. Aber er ist es, typisch. Im Übrigen enthielt dieser Raum bei seiner Öffnung durch Carter Hunderte von Objekten aller Art, einige von unschätzbarem Wert, andere typische Gerätschaften, die der junge König geliebt hatte, mehrere Wagen zum Beispiel, mit denen er zur Jagd fuhr.«
Sie verbrachten fast eine ganze Stunde in dem berühmtesten aller Pharaonengräber. Dann stiegen sie wieder an die Oberwelt, wanderten ihren Weg hinauf ins Tal und besichtigten eine weitere ausgedehnte Grabstelle, KV11, das Grab vom