Gegen elf Uhr des folgenden Tages kam Kapitän Nasseri persönlich auf das Sonnendeck, um die Burgess‘ daran zu erinnern, dass die Alexandria in etwa einer Stunde im ehemaligen Cynopolis, an der Insel im Nil, anlegen werde.
Vater und Tochter zogen sich um und warteten kurz vor der Landung mit Blackie und ein paar anderen Passagieren am Landungssteg, der nach ein paar Manövern von ein paar kräftigen Matrosen auf den Pier geschoben wurde und die Besucher auf die Insel entließ. Es war außerordentlich heiß. Aber da der Weg zum Tempel, der nicht mehr als 80 Schritte entfernt zwischen ein paar Palmen vor ihnen aufragte, nicht weit war, gab es kein Problem. Oberst und Amy Burgess steuerten direkt auf den Tempel zu, während sich die anderen Leute etwas verliefen. Blackie folgte ihnen in einer, wie Amy fand, ungewöhnlichen Haltung. Er trug seinen Kopf hoch, seinen buschigen Schwanz waagerecht und schien auf den Tempel fixiert zu sein. Der Tempel aus stark verwitterten rötlichen Sandsteinquadern gebaut, zeigte auf seinen Außenflächen einige Reliefs mit Bildnissen vor allem von Anubis und Ra und viele ziemlich verwitterte Inschriften. Leider war niemand da, der ihnen diese Inschriften entziffern konnte.
Sie traten durch ein hohes, von zwei dicken Säulen flankiertes Tor in das Halbdunkel der von kleineren Säulen umstandenen Tempelhalle und sahen sich unvermutet, noch bevor sie sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, einer riesigen steinernen Statue des Anubis gegenüber. Der alte Gott trug, wie sie es von anderen Bildern kannten, den Hundekopf über einem Menschenleib, in der rechten Hand den gegabelten Stab, das ›Was-Zepter‹ und in der linken den ›Anch‹, das Zeichen für das Weiterleben nach dem Tod.
Unter diesem besonderen Eindruck hatten die beiden Besucher nicht auf ihren Hund geachtet. Als Amy sich nach ihm umdrehte, sah sie, wie er sich in einer völlig ungewohnten Weise, fast kriechend, dem Standbild des Anubis näherte, dann niederlegte, seinen Kopf hob und einen lang gezogenen Ton, halb Gebell, halb Jaulen, so ganz anders als seine früheren Klagelieder, von sich gab. Als er schließlich verstummt war, legte er seinen Kopf auf die Pfoten und schloss seine grünen Augen. Nach einer Weile streckte sich sein Körper und seine aufgerichteten Lauscher sanken in sich zusammen.
Amy rief erschrocken: »Blackie!« und wollte zu ihm hinstürzen, als eine Stimme hinter ihr auf Englisch leise sagte: »Bitte nicht, Madame. Ihr Hund hat sich mit dem Gott, den er repräsentierte, vereinigt. Sie können ihn nicht mehr erreichen. Er ist am Ende seines weltlichen Lebens.«
Als sich Amy umdrehte, stand ein alter, grauhaariger Ägypter mit großen dunklen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, vor ihr. Er trug ein langes graues Gewand und alte Sandalen.
»Dieses Heiligtum, Madame, hat immer noch seine Wächter, die Getreuen des Anubis. Und wenn eine seiner Inkarnationen, wie Ihr Hund, zum Gott zurückkehrt, dann sorgen wir für ihn, wie wir, ich und die Wächter vor mir, es stets getan haben. Wir beerdigen den, der Anubis in der Welt vertrat, auf unserem Friedhof. Seien Sie nicht beunruhigt oder traurig. Anubis selbst wird seinem Ka den Weg in die ewige Welt zeigen. Auch wenn Sie es nicht glauben mögen: Das war das Ziel, das Ihr Hund erreichen wollte. Er hat es gefunden.«
Auf ein Zeichen von ihm kamen zwei junge Männer in kurzen, weißen Wickelröcken mit einer Bahre, hoben den Hund auf die Bahre, legten ein weißes Tuch über ihn und trugen ihn davon. Der alte Ägypter verneigte sich und folgte ihnen.
Amy Burgess weinte und machte Anstalten, ihnen nachzugehen, aber ihr Vater legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie aus dem Tempel. Er setzte sich dort mit ihr auf eine alte Steinbank und bemühte sich, sie zu beruhigen und zu trösten.
»Siehst du denn nicht, dass Blackies Zeit gekommen war, Amy? Der Hund war, wenn ich das richtig behalten habe, zwölf Jahre bei uns und war zwei oder drei Jahre alt, als du ihn ins Haus brachtest. Wir haben darüber schon früher geredet. Nach allem, was die, die es wissen müssen, sagen, entspricht ein Hundelebensjahr physisch dem von sieben Lebensjahren eines Menschen. Er hat also so viel wie um die hundert Menschenjahre gelebt und ein Alter erreicht, das man ihm wirklich nicht ansah.«
Er streichelte ihre Schulter.
»Wahrscheinlich haben wir ihm sein Altern gar nicht so angemerkt, weil er sich von jeher so würdevoll benahm und keine grauen Haare und Falten bekam wie ich.«
In Gedanken verloren blieb er eine Weile neben ihr sitzen. Er versuchte sie zu trösten: »Wenn ich an die Worte der Schöpfungsgeschichte denke, dass wir Menschen das Abbild unseres Gottes sind, dann kann ich nur sagen, dass dieser Blackie, ein Abbild seines Gottes, uns vorgemacht hat, wie man leben und sterben sollte: immer im Einverständnis mit seinem Gott und mit dem Wunsch, zu ihm zurückzukehren. Wenn nicht der Gott selbst in ihm wirkte. Komm, lass uns zum Schiff zurückgehen. Dies ist ein trauriger Ort. Hier ist nichts mehr für uns zu sehen und zu erleben.«
Er stand auf, reichte seiner Tochter die Hand und sie gingen durch das Gräberfeld für Anubis-Hunde zurück zur Alexandria.
* * *
»Und damit endet eigentlich Blackies Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen versprach. Nun ja, ein paar Einzelheiten, für die Sie sich interessieren mögen, sind noch nachzutragen.
Über den Rest der Ägyptenreise von Oberst Burgess und seiner Tochter Amy ist nicht viel zu berichten. Amy war zu traurig, um sich ohne ihren Begleiter Blackie auf etwas freuen zu können. Sie mochte allerdings ihrem Vater nicht den Urlaub verderben und machte das, was an Exkursionen in Assuan anstand mit, also die Besichtigung der Staudammanlagen, den Besuch des Isis-Tempels auf der Insel Philae im Stausee und die Fahrt über den See zu den geretteten Riesentempeln für Ramses II. und seine Frau in Abu Simbel am Ende des Stausees. Aber sie war, wie sie mir später sagte, glücklich, als sie endlich im Flugzeug saß, das sie von Assuan zurück nach England brachte.
Nachdem sie sich in Weybridge wieder eingelebt hatte, begann sie mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit, die Gedenkstätte für Blackie auf dem Hundefriedhof zu planen. Ihre Trauer um ihren Gefährten dauerte für viele Monate an. Ich weiß das, weil sie mich in ihre Pläne einbezog. Sie nahm mir sogar damals schon das Versprechen ab, für die Gedenkstelle zu sorgen, falls sie versterben sollte und ihr eigenes Grab so zu gestalten, wie sie es für ihren Blackie entwickelt hatte. Und das habe ich nach zehn Jahren getan. Sie lebte zu der Zeit allein in dem großen Haus in der Oak Lane. Ihr Vater war drei oder vier Jahre zuvor gestorben. Einen neuen Hund hat sie sich übrigens nie mehr angeschafft. Sie war weiterhin bei Merskin & Threadwell, der Anwaltskanzlei, beschäftigt, inzwischen als Büroleiterin, und war, wenn Sie mich fragen, die wichtigste Person in der renommierten Kanzlei. Und dann passierte es eines Tages, dass sie auf dem abendlichen Heimweg beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und lebensgefährlich verletzt wurde. Sie sah das Auto in der letzten Sekunde kommen, erschrak und verhaspelte sich mit ihrem Stock, als sie eilig die andere Straßenseite erreichen wollte. Der Fahrer war betrunken. Sie starb zwei Tage später.«
Nach kurzem Nachdenken ergänzte sie: »Das wäre ihr mit ihrem Blackie nie passiert. Der hätte sie gewarnt, und deshalb habe ich diesen Hinweis auf ihren Grabstein setzen lassen.«
Wir schwiegen uns einen Moment an und tranken den letzten Schluck aus unseren Gläsern.
»Vielen Dank, verehrte Frau Conston, für diese anrührende Geschichte. Wahrscheinlich werde ich einige Zeit brauchen, sie innerlich zu verarbeiten. Vielleicht noch eine Frage: Wissen Sie, ob irgendetwas aus der von Professor Graham geplanten Grabung geworden ist, ich meine die, die er nach Blackies Demonstration am Ende des Tals der Könige bei Grabstelle KV15 unternehmen wollte?«
»Ach ja. Dass ich das vergessen habe! Drei Monate nach ihrer Rückkehr nach Weybridge erhielten die Burgess’ einen Brief von Professor Graham, in dem er ihnen mitteilte, dass die mit modernen Sonden durchgeführte Untersuchung direkt unter den Felstrümmern, zwischen denen Blackie seinen Klagegesang abgegeben habe, den Zugang zu einer bisher unbekannten Grabkammer gefunden habe. Bei früheren Untersuchungen habe man diese Kammer wohl nicht finden können, weil sie direkt unter den Felstrümmern liegt, die offensichtlich erst in späteren Zeiten, nach der Anlegung des Grabes, herabgestürzt sind. Es gebe alle Anzeichen, dass es sich um ein bisher nicht gestörtes Grab handele. Man gehe mit der gebotenen Sorgfalt vor und habe bisher alle Meldungen an die Öffentlichkeit vermieden. Aber was