Diese Bedingung, dass Blackie sie auf der Fahrt begleiten dürfe, hatte sie Mr Merskin abgetrotzt.
»Dann ist ja alles wunderbar geregelt.« Julia Haswell war erleichtert. »Ich bin allerdings überrascht, wie formal die Juristen sind und wundere mich natürlich ein bisschen darüber. Das müssen Sie, Mr Merskin, einer jungen Frau ohne Erfahrung nachsehen. Aber Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich dieses Erbstück, dieses Juwel, das als wichtigste Preziose der Familie gilt und das nur meine Mutter ein paar Mal getragen hat, nachdem Großmutter gestorben war, gern einmal wiedersehen und in der Hand halten möchte, wenn Sie es mir denn schon nicht heute überlassen wollen.«
Mr Merskin überlegte nur kurz. »Dagegen kann wohl keiner etwas haben, gnädiges Fräulein. Amy, geben Sie mir bitte mal den Umschlag.«
Er nahm den Umschlag, zeigte das unversehrte Siegel, brach es und entnahm ihm eine blaue Kassette, die er auf den Tisch legte. Mr Merskin wandte sich fast väterlich an Julia Haswell. »Öffnen Sie nur die Schatulle. Es ist ja bald die Ihre.«
Julia Haswell drückte auf den goldenen Knopf an der einen Längsseite, der Deckel sprang auf.
Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erstaunen und gleichzeitig Erschrecken ab. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als wenn sie einen Schrei unterdrücken wolle. Alle anderen sahen es im gleichen Moment: Die Kassette war leer. Einen Augenblick stand entsetztes Schweigen im Raum. Selbst der sonst so beherrschte Mr Merskin war wie gelähmt. Dann sprachen mehrere Stimmen gleichzeitig durcheinander. Mr Merskin wollte schon nach der Kassette greifen, um sie näher zu untersuchen, als Amy ihn zurückhielt und ihm halblaut riet, sie nicht zu berühren, um mögliche Spuren nicht zu verwischen. Der alte Herr gewann sofort wieder seine besonnene Ruhe und Autorität.
»Bitte, niemand darf etwas anrühren. Hier ist etwas völlig Unglaubliches passiert. Ich fürchte, wir müssen die Polizei einschalten.«
Mr Merskin unternahm es selbst, das zu tun, bat Mr Goodwin, alle Unterlagen bezüglich des Verwahrstücks für eine Untersuchung vorzubereiten, und Amy, sich der immer noch fassungslosen Julia Haswell anzunehmen. Das Zimmer mit dem Umschlag und der Kassette auf dem Tisch wurde verschlossen.
Es gelang Amy, Julia Haswell einigermaßen zu beruhigen. Sie stellte ihr Blackie vor und war froh, in ihr eine tierliebende Seele zu entdecken, die darüber fast ihren Kummer vergaß. Blackie schien zu fühlen, dass Amy seine Hilfe brauchte und gab sich einigermaßen zutraulich, sodass Julia schließlich von Rasse und Würde des großen Hundes ganz fasziniert war und anfing, mit Amy über die Möglichkeit zu reden, mit ihm eine Zucht anzufangen. Dieser Vorschlag kam ihr ganz natürlich, weil ihr Vater, wenn man ihr glauben konnte, durchaus mit ihrer Hilfe eine eigene Spanielzucht aufgebaut hatte. Sie redete über das Thema mit großem Engagement und offenbar umfangreicher Sachkenntnis, was Amy, der solche Überlegungen völlig fernlagen, einigermaßen verlegen machte. Jedenfalls überbrückte das großartig die Zeit, bis Mr Merskin die beiden jungen Frauen in das Besuchszimmer bat, in dem inzwischen zwei Detektive der Polizei des County Surrey warteten. Leutnant Morsley begann mit seiner Vernehmung und ließ sich Hintergrund und Umstände dieses merkwürdigen Verlustes erklären. Es wurde festgestellt, dass der Umschlag mit unbeschädigtem Siegel von der Bank in die Kanzlei gebracht und erst dort in Gegenwart von allen Beteiligten geöffnet worden sei. Es wurde weiter festgestellt, dass der Umschlag mit der Kassette in den vergangenen Jahren ab und zu aus der Verwahrung geholt worden war, weil Julia Haswells Mutter bis zu deren 21. Geburtstag ein Verfügungsrecht über den Schmuck hatte und ihn wiederholt benutzte. Der Schmuck wurde anschließend zurück in die Verwahrung durch die Firma Merskin & Threadwell verbracht.
Hier hakten die erfahrenen Detektive ein. Wie oft war der Umschlag in den Jahren abgeholt worden? Wann zum letzten Mal? War er versiegelt zurückgebracht worden oder waren Kassette und Inhalt überprüft und der Umschlag in der Kanzlei versiegelt worden?
Es brachte Mr Merskin und die zuständigen Mitarbeiter in der Kanzlei etwas ins Schwitzen, glaubwürdig zu erklären, dass der Umschlag mit der Kassette vor vier Jahren zum letzten Mal abgeholt und mit dem Siegel der Haswells verschlossen, zurückgebracht und in Verwahrung genommen worden sei.
Das machte eine Untersuchung erforderlich, wie mit dem Schmuck umgegangen wurde, wenn er von der letzten Viscountess Haswell benutzt wurde. Mr Merskin hatte den Viscount bereits telefonisch von dem Verlust des Schmucks unterrichtet und verabredete in einem weiteren Gespräch, dass Detektive mit den sonstigen Beteiligten von Merskin & Threadwell am folgenden Tag nach Colridge Manor kommen würden, um die Untersuchung fortzusetzen. Viscount Haswell bat darum, die ganze Angelegenheit vertraulich zu behandeln, was Mr Merskin ihm auch zusicherte.
Am Kopf des Eichentisches in der großen Halle von Colridge Manor saß der alte Viscount Haswell, rechts neben ihm Mr Merskin, links von ihm seine Tochter Julia. Sonst um den Tisch verteilt saßen die beiden Detektive, Mr Goodwin von der Kanzlei und ganz am Ende Amy. Wie üblich lag Blackie hinter ihrem Stuhl. Vor dem Tisch hatten sich einige der Angestellten des Hauses aufgestellt, an ihrer Spitze der Butler, der weißhaarige George Boswell, dann der Sekretär des Viscount, Alfred Erwin, und ihm folgend noch die ehemalige Zofe der Viscountess und der Fahrer John. Auf die Anwesenheit weiterer Angestellter hatten die Detektive verzichtet. Das Corpus Delicti, der Umschlag mit der leeren Kassette, lag auf einem kleinen Tisch etwas an der Seite.
Detektiv-Leutnant Morsley gab dem Viscount und den sonstigen Beteiligten einen kurzen Bericht über den Sachstand der Untersuchung. Er endete damit, es gebe gewisse Verdachtsmomente, dass das bedeutende Familienschmuckstück beim letzten Gebrauch hier in Colridge Manor abhandengekommen sei. Um diese zu erhärten oder auszuschließen sei vorgesehen, alle Mitglieder, die mit dem Schmuckstück zu tun gehabt hätten, zu befragen. Darüber hinaus wolle man auf Wunsch der Familie die Hilfe von Hunden einsetzen, die mit ihrem Geruchssinn vielleicht schneller, als es Menschen vermögen, Spuren finden könnten. Dahinter steckte ein von Amy mit Julia Haswell ausgedachter Einsatz von Blackie, dem nach einigem Zögern auch der Viscount zugestimmt hatte, nachdem er Blackie kurz kennengelernt und mit den Augen eines erfahrenen Hundezüchters seine Klasse und Integrität festgestellt hatte, obwohl er die Rasse selbst nicht kannte.
Amy stand auf. Blackie folgte ihr bei Fuß. Sie führte den Hund zu dem Tisch mit den Asservaten und ließ ihn kurz Witterung an der Kassette aufnehmen. Der Hund verstand offensichtlich, was man von ihm wollte. Er hob seine Nase in die Luft, drehte seinen Kopf hin und her. Und dann geschah das Unerhörte. Er nahm mit seinem Fang die Kassette auf, bevor ihn irgendeiner daran hindern konnte, drehte sich um und steuerte ohne Umschweife auf die Reihe der Angestellten zu und legte die Kassette vor die Füße von Alfred Erwin, dem Sekretär, setzte sich auf seine Keulen, sah den Mann aus seinen grünen Augen an und bellte einmal mit seiner tiefen Stimme.
Der Mann war bleich geworden. Er fing an zu zittern und schrie plötzlich: »Nehmt den Hund weg! Nehmt den Hund weg! Der Hund macht mich verrückt!«
Unvermittelt drehte er sich um und stürzte aus der Halle, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte, weil alles so plötzlich geschah.
Nachdem sich die allgemeine Aufregung etwas gelegt hatte, standen Detektiv-Leutnant Morsley und Mr Merskin bei Viscount Haswell und unterhielten sich, was weiter zu tun sei.
»Mein Mitarbeiter kümmert sich schon um Mr Erwin. Der Mann scheint nicht bei sich zu sein. Er jammert nur und redet wirres Zeug, als sei er behext. Wir werden ihn wohl mitnehmen müssen, Viscount Haswell.«
»Nur zu. Ich hätte nicht gedacht, dass Alfred zu einer solchen Tat fähig wäre. Immerhin war er dreizehn Jahre in meinen Diensten. Bisher ist ja nichts bewiesen. Wir haben vor allem das Schmuckstück noch nicht gefunden, den Beweis seiner Schuld.«
Da mischte sich seine Tochter Julia ein, die hinter ihm stand.
»Wenn du erlaubst, Vater, könnten wir mit dem Hund danach suchen. Ich habe da alles Zutrauen.«
Der alte Herr dachte kurz nach. »In mir sträubt sich etwas dagegen. Man muss jedem Menschen, so verdächtig er sich auch gemacht hat, doch seinen Freiraum geben. Andererseits bin ich hier Herr im Haus. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen.«
Eine halbe Stunde später waren Detektiv-Leutnant